Viele im Schussental spüren: Das ständige Scrollen, Tippen, Checken tut
uns nicht gut. Doch ist das schon Sucht? Wo finden wir Entschleunigung? Und wie schützen wir unsere Kinder vor dem digitalen Dauerfeuer? Antworten geben Expert:innen aus der Region – offen, konkret und alltagstauglich.
Was denkst du, wie viel Zeit du heute schon am Smartphone verbracht hast? Schätz mal! Unter Einstellungen „Bildschirmzeit“ (iOS) oder „Digitales Wohlbefinden“ (Android) kannst du nachsehen. Hand aufs Herz: Hättest du weniger geschätzt? Ist dir diese Zeit eigentlich zu viel? Denken wir mal darauf herum.
WENN DOPAMIN UNS LENKT
Warum greifen wir immer wieder zum Handy, obwohl wir wissen, dass es uns stresst? „Anwendungen am Handy aktivieren unser Belohnungssystem, was über eine Dopaminausschüttung dazu führt, dass wir uns gut fühlen“, erklärt der Ravensburger Neurologe Paul Eberle. Das sogenannte mesolimbische System wird aktiviert – ein neuronaler Schaltkreis im Gehirn, der für Motivation, Emotion und positive Verstärkung verantwortlich ist. Normalerweise hilft es uns dabei, evolutionär sinnvolle Dinge zu belohnen: gutes Essen, soziale Bindung, Sexualität.
Problematisch wird es, wenn dieser Kreislauf von Reizen überfrachtet wird: Push-Nachrichten, Likes, Reels. Der Mensch gewöhnt sich an den ständigen Dopaminkick. „Das kann zu einem schädlichen Konsum führen, bei dem wir Freunde und Familie vernachlässigen“, so Eberle. Die ständige Reizüberflutung lässt uns verlernen, zur Ruhe zu kommen. „Es gibt Patient:innen, die Daueraktive sind. Die also bis direkt vor dem Schlafengehen Medien konsumieren, immer erreichbar sind und dadurch nicht mehr abschalten können.“ Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Depressionen oder Burnout können die Folge sein – dabei ist der Dauermedienkonsum zwar nicht die alleinige Ursache, aber eine stützende Verhaltensweise.
Kleine „Digital Detox“ – Tipps für den Alltag
- Nicht-Stören-Modus beim Essen und bei Gesprächen aktivieren
- Handy abends ausschalten – kein Smartphone im Schlafzimmer
- Täglicher Mini-Reset: 3 Minuten Augen schließen, Atmung beobachten, Körper spüren
- Reflexion: Was mache ich am Handy? Was davon tut mir gut? Welche Alternativen sind besser für mich?
WENN DIE JÜNGSTEN ONLINE VERLOREN GEHEN
„Ich war erschrocken, wie viele Kinder unter zehn Jahren auf allen sozialen Medien unterwegs sind“, sagt Digitaltrainerin Monika Rath, die in Baden-Württemberg Eltern und Schulen coacht. Was so früh beginnt, verläuft sich in der Regel auch nicht im Jugendalter. Diesen Eindruck verschärft die DAK-Studie „Ohne Ende Online?!“.
Sie untersucht die Entwicklung der Mediennutzung seit 2019: Mehr als ein Viertel der 10- bis 17-Jährigen nutzt demnach Gaming, Social Media und Streaming riskant oder krankhaft. Jungen sind stärker betroffen als Mädchen.
Neben Schulproblemen und sozialem Rückzug droht ein weiteres Risiko: „Kinder machen, was man ihnen vorlebt, nicht was man ihnen sagt“, mahnt Rath. Eltern, die beim Abendessen durch Instagram scrollen, prägen ihre Kinder. Australische Forschungen zeigen: Wenn Eltern oft am Handy sind, leidet die Bindung zu ihren Kindern – und die kognitive Entwicklung der Kleinen. „Daher beginnt Medienerziehung heute bereits im Kleinkindalter“, erklärt die Digitaltrainerin.

„Ein Handy nicht zu nutzen, ist utopisch. Aber wenn wir es auf die Zeit als Werkzeug reduzieren, gewinnen wir schon viel.“
Monika Rath
Digitaltrainerin
SCHULEN IM SCHUSSENTAL: AUF DER SUCHE NACH SINNVOLLEN REGELN
In Frankreich ist das Handy an Schulen tabu. Die Schulen im Schussental regeln die Handynutzung selbst. Von Komplettverbot über eingeschlossen im Schrank bis ausgeschaltet in der Tasche gibt es jeweils ganz unterschiedliche Regeln. Bildungsministerin Prien forderte jüngst ein Verbot für Grundschulen. „Zu lange Bildschirmzeiten führen unter anderem zu schlechteren Lernleistungen und psychischen Problemen“, heißt es.
Ab welchem Alter ist ein Handy okay? Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Da sind sich alle Experten einig. Die Wissenschaft empfiehlt „ab 14“ – in der Realität umsetzbar ist das heutzutage kaum mehr. „Die meisten Eltern wollen das gar nicht so früh, geben aber dem Druck der Gesellschaft nach“, erklärt Monika Rath, „aus Angst, das eigene Kind auszuschließen.“ Umso bedeutender sei ein gutes Heranführen, Betreuen und gemeinsames Kontrollieren der konkreten Bildschirm-Aktivitäten.
Eltern Tipps von Monika Rath
- Begleiten statt kontrollieren: Gespräche über Apps, Inhalte, Grenzen
- Mediennutzungsvertrag mit dem Kind vereinbaren:
www.mediennutzungsvertrag.de - Kein Handy im Schlafzimmer der Kinder – klare Offline-Zeiten
- Push-Nachrichten ausstellen, Apps gezielt auswählen
- Das erste Handy als Leih-Handy:
„Es gehört dir für diesen Ausflug / dieses Wochenende.“ - Regel: Handy ist Werkzeug, kein Dauerbegleiter

„Es ist heute eher die Ausnahme, wenn ein Kind ab Klasse 5 kein Handy hat“, weiß Polizist Michael Hepp. Er und seine Kolleg:innen vom Polizeipräsidium Ravensburg bieten kostenlose Präventionsangebote – in Sachen Mediensicherheit, aber auch Gewalt, Mobbing und Verkehrssicherheit – in den Klassen 5 bis 10. „Von Baienfurt bis in die Ravensburger Südstadt waren wir eigentlich schon an allen weiterführenden Schulen. Egal, ob staatlicher Träger oder privat: Alle nutzen unser Angebot!“
Auch die Realschule Ravensburg geht aktiv voran: Mit dem Projekt „Medien sicher“ hat sie mit Unterstützung des Landesmedienzentrums ein eigenes Konzept für Fünftklässler:innen entwickelt. Schulleiterin Michaela Steinhilber berichtet stolz: „Für unser Konzept haben wir den 1. Platz der UKBW-Schülersicherheit gewonnen. Das ist die Unfallkasse Baden-Württemberg. Sie ruft jährlich – gemeinsam mit dem Kultus- und Innenministerium – Schulen dazu auf, außergewöhnliche Projekte für mehr Sicherheit und Gesundheit einzureichen.“ Lehrer und Schulsozialarbeit arbeiten in der Ravensburger Realschule Hand in Hand. In den Workshops mit den Schülern werden Apps analysiert, Nachrichten bewertet, Klassenchats geregelt. Die Eltern sind von Anfang an eingebunden. „Wir profitieren auch von kostenpflichtigen, externen Experten, die wir zu einzelnen Projekten regelmäßig an die Schule holen.“

„Wir wollen unsere Schüler:innen fit machen für die digitale Welt – ohne sie darin zu verlieren.“
Michaela Steinhilber
Schulleiterin Realschule Ravensburg



„Wir schützen Kinder vor Alkohol, Drogen und Verkehrsunfällen.
Warum nicht vor einer zu frühen, unbegleiteten Smartphone-Nutzung?“
Michael Hepp
Kriminalbeamter in der Präventionsarbeit
SMEP – SCHÜLER HELFEN SCHÜLER SICHER DURCHS NETZ
Das Kreismedienzentrum Ravensburg bietet mit dem SMEP-Programm („Schüler-Medienmentoren-Programm“) eine clevere Form der Medienprävention an: Jugendliche werden zu kompetenten Ansprechpartnern rund um sichere und reflektierte Mediennutzung ausgebildet. Sie organisieren Workshops, beraten Jüngere bei Fragen zu Apps, Datenschutz und Online-Verhalten und wirken aktiv im Schulalltag mit – ob in Projektwochen, Mediensprechstunden oder AGs. SMEP setzt auf den sogenannten Peer-to-Peer-Effekt: Jugendliche hören lieber auf andere Jugendliche. Und das funktioniert.
MEDIENSUCHT BETRIFFT NICHT NUR KINDER UND JUGENDLICHE
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) beobachtet sogenannte Internetnutzungsstörungen bei allen Altersgruppen. Das „DHS Jahrbuch Sucht 2024“ nennt die häufigsten Online-Süchte beim Namen: Online-Glücksspiel, Pornografie-Nutzung, Shopping, Gaming und Social Media. Besonders brisant: Laut Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg weisen über ein Viertel der Menschen, die Sportwetten machen, in der Altersgruppe 21 bis 35 eine Glücksspielstörung auf.
IST ES SCHON SUCHT? DIE LEISEN SIGNALE
Walter Krebs, Suchtbeauftragter des Landkreises Ravensburg, warnt: „Sucht ist diffus und geht durch alle Bevölkerungsschichten.“ Besonders tricky sind Mikrotransaktionen (In-App-Einkäufe): Ein Bonus hier, eine verbesserte Version dort – und schon ist das Taschengeld weg.
Was viele nicht wissen: Die Algorithmen eines Insta-Feeds mischen perfekte Ergebnisse mit langweiligen – in Bezug auf die Interessen des einzelnen Nutzers. „Das erzeugt eine Goldgräber-Hormonausschüttung. Weil immer wieder ‚genau meins‘ gestreut wird“, erklärt Walter Krebs. „Um solche Mechanismen erkennen zu können, müssen Social Media Kompetenzen entwickelt werden“, erklärt er. Denn ein bewussterer Umgang mit dem Smartphone beginnt immer mit Verständnis der Wirkweise.

„Sucht ist diffus. Es gibt sie überall. Auch auf dem Sofa mit dem Handy in der Hand.“
Walter Krebs
Kommunaler Suchtbeauftragter beim Landratsamt Ravensburg
Willy für Kids:
Deshalb ist Willy im Juli und im November wieder an diversen Schulen und Kindergärten im Schussental unterwegs – live und in Farbe. Im Lerntheater erfahrt ihr, warum ohne Strom gar nix funktioniert. Vor allem nichts Digitales!

„Wenn man das Leben bewusst wahrnimmt, ist es reichhaltiger und automatisch auch stressfreier.“
Michael Herrling
Achtsamkeitstrainer und Digitalprofi aus Ravensburg
ZWISCHEN SELBSTWAHRNEHMUNG UND DOPAMINKICK
Michael Herrling ist Achtsamkeitstrainer. Und Social-Media-Profi. Ein Widerspruch? „Ich habe selbst erlebt, wie mich die digitale Schnelllebigkeit stresst. Deshalb unterrichte ich heute MBSR.“ Das steht für „Mindfulness-Based Stress Reduction“ – ein wissenschaftlich fundiertes Acht-Wochen-Programm, das durch Meditation, Atem- und Körperübungen die Selbstwahrnehmung stärkt.
„TikTok wirkt wie Entspannung. Dabei merken wir gar nicht, wie viele Reize uns belasten. Entspannung beginnt mit einem echten Innehalten.“ Ein fester Bestandteil seiner Seminare ist zum Beispiel der bewusste Blick in die Natur – durch einen einfachen Papierrahmen, der an einen Smartphone-Bildschirm erinnert, nur dass dieser nicht mit Inhalten gefüllt ist, sondern die Sinne selbst aktiviert. Faszinierend, was sich dabei alles entdecken lässt – direkt vor einem oder weit entfernt.
DIGITAL DETOX IST KEINE SMARTPHONE-FEINDSCHAFT
Doch das Smartphone hat auch viele gute Seiten. „Gerade bei psychischen Erkrankungen helfen Apps, mit der Erkrankung umzugehen“, sagt Neurologe Eberle. Auch soziale Kontakte lassen sich digital gut pflegen. Aber: „Wir sind die ersten Generationen, die das lernen. Wir müssen uns einen Umgang erst erarbeiten.“
Unsere Experten sind sich einig: Detox ist kein Verzicht. Sondern ein Innehalten. Eine bewusste Entscheidung. Für einen achtsameren Umgang.

„Medienkonsum kann psychische Erkrankungen nicht verursachen, aber er kann sie verstärken.“
Dr. med Paul Eberle
Arzt in der Neurologie am Gänsbühl und zuvor Facharzt am ZfP Weissenau