„Ich bin Guido Andelfinger. Glasmaler im Ruhestand – ganz frisch. Mein letzter Werkstatttag ist der Donnerstag vor dem Rutenfreitag. Dann schließt meine Werkstatt in der Georgstraße in Ravensburg ihre Tore. Und ja: Es war ein schöner Beruf! Angefangen hat alles mit einer Anzeige in der Zeitung. Ich war beim Bund, sollte da Fotograf werden – wurde aber nur zum Schießfilm-Auswerter. Kein Spaß. Also habe ich mich als Glasmaler beworben und durfte direkt einsteigen. 1979 absolvierte ich meine Ausbildung bei der Firma Bernhardt in der Tannenbergstraße.
Kurz wollte ich Lehrer werden, habe aber bereits zu Beginn des Studiums an der Pädagogischen Hochschule gemerkt: Das ist nicht meine Baustelle! So zog ich mit fliegenden Fahnen wieder ins Arbeitsleben, zurück zur Firma Bernhardt, und machte nebenberuflich den Meister. Wir stellten Vorhängescheiben her – diese runden Glasscheiben mit Stadtansicht, Wappen oder Ornament, die vor die Fenster gehängt wurden. Wir fertigten in Spitzenzeiten bis zu 700 Stück pro Woche, da der Entwurf lange vorher entstand und wir in Kleinserien bis 20 gleiche Stücke malten – mit 36 Mitarbeitenden, die meisten waren Frauen. Zusammen mit dem rustikalen Eichenwandschrank war dann auch die Zeit der Vorhängescheiben zu Ende. Der Boom war vorbei! Also habe ich reduziert. Meine Frau und ich teilten uns die Kinderbetreuung. 2011 kam dann der Schnitt: Der Chef ging in Rente. Ich habe den Betrieb übernommen – unter dem alten Namen. Ich reparierte Keller- und Kirchenfenster, einfache Bleiverglasungen in Gaststätten oder komplexe in historischen Gebäuden. Keine Maschinen, keine Hektik. Nur Glas, Zange und Bleimesser.
Am Ende waren wir nur noch zwei. Mein Kollege Horst ist 73. Ich bin seit Dezember auch offiziell Rentner. Wir arbeiten noch die letzten Aufträge ab – Kirchen, eine alte Villa. Dann ist Schluss. Kein Nachfolger, kein Markt mehr für kleine Manufakturen wie unsere. Wir haben fast jede Kirche in der Region gesehen. Jodok, Stadtkirche, Liebfrauen – 95 Prozent aller Kapellen hatten irgendwann mal ein kaputtes Fenster. Meistens: Hagel, Fußball, Rasenmäherstein. Unsere höchste Baustelle war die Laterne der Basilika. 70 Meter hoch. Viel Zeit auf dem Gerüst. Die Höhenangst legst du irgendwann ab. Mein ekligster Auftrag? Ebenfalls Basilika. Über der Sakristei. Scheibenreinigung. Da war ein mystischer Gelbverlauf im Fenster. Sah aus wie Kunst. War aber nur Taubenmist. Und dahinter ein Hohlraum mit mumifizierten Vögeln. Wir in Schutzanzügen wie Tatortreiniger. Der Geschmack war vier Wochen lang im Mund. Aber die Scheibe leuchtet bis heute. Meine Lieblingsbaustelle? Ailingen, die kleine Kapelle über der Gerbe. Jedes Jahr im Frühling. Wenn unten die Kicker wieder ein Fenster getroffen hatten. Und oben: Obstblüte, Blick auf den Bodensee, der Zeppelin schwebt vorbei. Dafür hätte ich auch umsonst gearbeitet. Ich bin kein Theoretiker. Ich bastle, baue, repariere. Bald: Modellbahn mit den Enkeln. Das Glas war für mich nie nur Beruf – es war Berufung. Die Werkstatt brauchte kein Radio. Mein Kollege hat gesungen. Ich hatte Zeit, Dinge ordentlich zu machen. Und ich würde es wieder tun. Also, ich bin dann mal weg!“