Die Artenvielfalt im Schussental: Was getan wird und was wir tun können

Mehr Quak. Mehr Bunt. Mehr Vielfalt.

vom 4. Apr. 2025
Autor: Sandra Huth
Fotos: Don Ailinger, LEV
© Don Ailinger
  1. Du bist hier: Start
  2.  » 
  3. Artikel
  4.  » 
  5. VERSTEHEN
  6.  » Mehr Quak. Mehr Bunt. Mehr Vielfalt.
Wusstest du, dass 75 bis 90 Prozent der alten Gemüsesorten mittlerweile als verschollen gelten? Und dass die Zahl fliegender Insekten in deutschen Naturschutzgebieten zwischen 1989 und 2016 um 75 Prozent zurückging? Erschreckende Zahlen! Doch im Schussental gibt es Hoffnung: Passionierte Akteur:innen setzen sich tatkräftig für den Schutz der Artenvielfalt ein – und jeder von uns kann einen Teil dazu beitragen!
60 blühende Fußballfelder – für diese Fläche hat die Aktion „Blühender Landkreis“ seit 2019 kostenfreies Saatgut auf Bestellung zur Verfügung gestellt. Rund 35.000 Haushalte verwandelten damit ihre eigenen Gärten oder Balkone in bunte, insektenfreundliche Flächen.

Tobias Hornung ist Biodiversitätsmanager beim Landschaftserhaltungsverband Ravensburg. Der 32-Jährige setzt mit zwei Kolleg:innen die Biodiversitätsstrategie des Landkreises Ravensburg um. Ziel der Strategie ist es, Flächen von Kommunen, Firmen, Privatpersonen und der Landwirtschaft ökologisch aufzuwerten. Mit Aktionen wie dem Blühenden Landkreis will sie Unterarten fördern und das Aussterben bedrohter Tier- und Pflanzenarten abwenden.

„Wir müssen ganz unten anfangen, wenn wir die Artenvielfalt im Mikrokosmos Garten unterstützen wollen. Also bringen wir Pflanzenarten in die Gärten, auf die viele Tiere angewiesen sind. Wenn wir die Nahrungsgrundlage von Insekten bereitstellen, kommen die Insekten, dadurch kommen die Vögel, irgendwann kommen die Beutegreifer und so weiter. Der Blühende Landkreis will möglichst viele solcher blühender Miniflächen im ganzen Landkreis schaffen. So sollen Biotope vernetzt und Lebensräume für verschiedene Arten verbessert werden“, berichtet Tobias Hornung.

BLÜHENDER LANDKREIS 2025: Gemüsevielfalt
Der Blühende Landkreis setzt jährlich einen neuen Schwerpunkt. Mal gab es die Kräutermischung, verschiedene Blühmischungen, mal die Nistkastenaktion, den Firmenwettbewerb – in diesem Jahr werden 10.000 Gemüsesaattütchen kostenlos an teilnehmende Haushalte versendet: eine Balkonmischung und eine Gartenmischung, konzeptioniert und hergestellt von Patrick Kaiser.

Patrick Kaiser ist Gründer der Initiative Tatgut, die sich auf die Erhaltung und Vermehrung samenfester Gartenraritäten und historischer Gemüsesorten spezialisiert hat. Nach seinem Studium der Saatguttechnologie und Pflanzenzüchtung sowie einer Fahrradreise vom Bodensee nach Indien entschloss er sich, zur Rettung und zum Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt beizutragen.

„90  Prozent der Sortenvielfalt gilt bereits als verschollen. Auch kleine Beiträge zum Erhalt sind hier von unschätzbarem Wert.“

Patrick Kaiser
Saatguterhalter & Vielfaltsliebhaber bei Genbänkle e.V. und Tatgut

Der Unterschied zum Baumarkt-Tütchen
Die Wahl des Saatgutes ist aus vielerlei Gründen entscheidend für die Artenvielfalt. „Wir verbreiten regionale Samen seltener Pflanzenarten. Und zwar derer, die den bedrohten Insekten etwas bringen“, sagt Patrick Kaiser. Und genau da liege der Unterschied zum Baumarkt-Tütchen.

Saatgutmischungen aus China enthielten meist exotische Pflanzenarten, die unsere Insekten tendenziell meiden, weil sie sich auf heimische Sorten spezialisiert haben. Zudem sei konventionelles Saatgut nicht auf den Standort angepasst. „Hier im Schussental haben wir teils schwere Böden und kühlere Temperaturen. Das berücksichtige ich bei der Zusammenstellung.“

Patrick Kaiser wünscht sich, dass die Menschen Gemüse nicht nur in seinem kulinarischen Zweck sehen, sondern auch als Beitrag für die Natur und für die Vielfalt. „Wir müssen wieder lernen, Gemüse ganzheitlich zu betrachten.“ © Don Ailinger

Krefelder Insektenstudie: Alarmsignal für die Artenvielfalt

Die Krefelder Studie zeigte, dass die Zahl fliegender Insekten in deutschen Naturschutzgebieten zwischen 1989 und 2016 um 75 Prozent zurückging. Eine Metastudie aus Halle-Leipzig bestätigte 2020 den weltweiten Trend: Knapp neun Prozent weniger Insekten pro zehn Jahre. Hauptursachen sind intensive Landwirtschaft, Pestizide, Lebensraumverlust und der Klimawandel.

Nicht samenfestes Saatgut ist wie Einwegbecher!
Wer hybride Gemüsesamen im Baumarkt kauft, erhält nicht samenfestes Saatgut. Dagegen lässt sich samenfestes Gemüse über Jahre hinweg selbst vermehren, ohne an Qualität oder Ertrag zu verlieren. Das schaffen auch Hobbygärtner:innen. Das entsprechende Know-how liefert Patrick Kaiser gerne gratis mit. Die Blüh-Community des Blühenden Landkreises wird von News-lettern begleitet – mit Tipps von Bodenpflege, übers richtige Ausbringen, bis hin zur Pflege, zum Schnitt und zur Vermehrung.

Wissen ist der erste Schritt zur Veränderung
Erst wenn wir verstehen, können wir umdenken und dann handeln. Das wissen auch Corinna Tonoli, Geschäftsführerin der Ortsgruppe Ravensburg-Weingarten vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), und Diplom-Biologin Ute auf der Brücken. Im Namen des BUND – als wichtiger Bildungspartner für Schulen im Schussental – stellen sie Umweltbildungsprogramme für Kinder, Jugendliche und Familien auf die Beine.

„2024 haben wir 1.300 Kinder betreut. 2023 waren es sogar 1.700 Kinder. Dabei haben wir mit knapp 30
Schulen kooperiert“, berichtet Ute auf der Brücken.

Waldolympiaden, Streuobstwiesen erkunden, Insekten identifizieren, dem Biber auf der Spur sein, Gewässer untersuchen, Müll recyceln, auf Einkaufssafari gehen und Verpackungsfallen entdecken, Naturerlebnis-Geburtstag feiern oder Energiedetektiv:in sein –
das Angebot des BUND ist riesengroß. Diese Angebotsvielfalt hat auch die TWS fasziniert! Daher haben wir beschlossen, die Ortsgruppe des BUND im Schussental zu unterstützen.

Wir fördern die Schaffung einer NaTurWerkStatt: eines mobilen und wettergeschützten Lernortes mitten in der Natur, der als flexibler Raum für Exkursionen, Vorträge und kreative Workshops dienen soll. Zudem unterstützen wir die Anschaffung mobiler Umweltbildungsboxen mit naturpädagogischem Material für die Gruppenleitungen der Kindergruppen in Ravensburg, Weingarten und Mochenwangen. Diese Boxen sollen beispielsweise Lupen, Seile, Werkzeuge, Tier- und Pflanzenmodelle für Themen wie Feuer, Biber, Bodenerkundung oder Insekten enthalten und so zur erlebbaren Umweltbildung beitragen. Denn Lernen, so sagt der BUND, findet mitten zwischen Pflanzen, Tieren und Gewässern statt – ohne Noten- und Leistungsdruck, abseits des Klassenzimmers.

Natur erleben mit Herz und Verstand: Biologin Ute auf der Brücken (u.) begeistert Kinder und Erwachsene für die Natur. Corinna Tonoli (l.), BUND-Ortsgruppenleiterin in RV-Weingarten, engagiert sich u. a. in der Familiengruppe und beim Lastenradprojekt WeRa. © Don Ailinger

Amphibienschutz: Die Retter der Frösche und Kröten
Zugegeben: Amphibien haben nicht das beste Image! Da hilft nicht mal der Froschkönig. Allerdings sind einige Unterarten in Süddeutschland akut vom Aussterben bedroht. Tobias Hornung und seine Kolleg:innen vom Landschaftserhaltungsverband (LEV) betreuen das Amphibienschutzprojekt in Langenargen mit dem Ziel, das Aussterben des Moorfrosches abzuwenden.

„Einmal ausgestorben, ist ausgestorben. Dabei ist es unsere Aufgabe,
das Netzwerk zu schützen, in dem alles voneinander abhängt.“

Tobias Hornung
Biodiversitätsmanager beim Landschaftserhaltungsverband RV

Er ist etwa 6 Zentimeter klein, manchmal leuchtend blau und leider sehr einsam. In Baden-Württemberg kann der Moorfrosch nur noch in zwei Landkreisen nachgewiesen werden: Karlsruhe und Ravensburg. Die isolierten Populationen der kleinen Braunfroschart sind anfällig für Inzucht und genetische Verarmung, was zu einem weiteren Bestandsrückgang führt. Zusätzliche Gefährdungen resultieren aus mangelnden Laichgewässern. „Der Moorfrosch kann nur noch in den Schutzgebieten wie dem Wurzacher Ried überleben“, erklärt Tobias Hornung vom Landschaftserhaltungsverband. „Das macht ihn zur extrem stark gefährdeten Art.“ Sein Team sammelt im Frühjahr Moorfroschlaich und bringt ihn in die Aufzuchtstation in Langenargen, wo er unter idealen Bedingungen zu Kaulquappen heranwächst. Im Mai werden die kleinen Moorfrösche im Ursprungsgebiet freigelassen. Zusätzlich werden neue Laichgewässer in den Mooren geschaffen.

Der gesammelte Froschlaich wird vom LEV sicher vor Fressfeinden in der Aufzuchtstation großgezogen. © Don Ailinger

Nachts im Wald: Einsatz für die Erdkröte
Helmut Kraft ist seit fast 50 Jahren beim NABU Weingarten. In der warmen Jahreszeit gibt er Vogelführungen, im kalten Frühjahr zieht er spät abends die guten Stiefel an, setzt die Stirnlampe auf und stapft mit weiteren Helfer:innen die Straße entlang, um Erdkröten zu sammeln, damit diese nicht bei ihrer nächtlichen Wanderung zu Laichgewässern von Autos überfahren werden.

Der engagierte Rentner und sein Team sammeln in Schmalegg-Unterwolfsberg und an der Berger Gemeindestraße am Horrachhof. Im Jahr 2023 konnten die freiwilligen Sammler:innen 1.309 lebende Erdkröten, 107 lebende Grasfrösche und 4 lebende Bergmolche weg von der Straße und in Sicherheit bringen.

Nachts im Wald: Einsatz für die Erdkröte: Helmut Kraft ist seit fast 50 Jahren beim NABU Weingarten © Don Ailinger

Gemeinsam für den Artenschutz
Wir erleben in unserer Region ein unglaubliches Engagement im Bereich Umwelt- und Naturschutz – für Amphibien, Pflanzen, in der Bildung und darüber hinaus. Lassen wir uns davon inspirieren. Wir ziehen schon mal die Gartenhandschuhe an!

So fördert ihr die Artenvielfalt im Garten

Blühflächen anlegen
Blühwiesen funktionieren am besten auf stark besonnten Flächen. Im Halbschatten pflanzt lieber Heckengehölze. Wenn ihr eure Pflanzen beernten wollt, wählt Beerensträucher wie Schlehe, Weißdorn oder Holunder – oder heimische Streuobstbäume.

Regionale Blühmischungen
Saatgut aus dem Baumarkt stammt häufig aus China. Es funktioniert in der Regel gut und entwickelt sich farbenprächtig. Jedoch haben unsere heimischen Insekten sich darauf nicht angepasst und steuern diese Blüten häufig gar nicht an.

Gemüse nur zum Teil ernten
Wenn ihr den dreifachen Nutzen aus dem Gemüseanbau ziehen wollt, erntet nur einen Teil des Gemüses und lasst den Rest in die Blüte gehen. So haben auch die Insekten was davon. Gleichzeitig könnt ihr euren eigenen Samen fürs nächste Jahr gewinnen.

Nur samenfeste Sorten
Das Vermehren des Gemüses über eigene Samen klappt nur, wenn das Saatgut samenfest ist. Werft also vor dem Kauf einen genaueren Blick aufs Samentütchen.

Auf natürliche Art düngen
Verzichtet auf Pestizide und chemischen Dünger. Verwendet torffreie Substrate. Düngt mit Kompost – am besten vom eigenen Komposthaufen. Den mag übrigens auch der Igel als gemütliches Winterquartier.

making of „mein Schussental“ | Artenvielfalt im Schussental – Was getan wird und was wir tun können: Passionierte Akteur:innen setzen sich tatkräftig für den Schutz der Artenvielfalt ein – und jeder von uns kann einen Teil dazu beitragen! © Don Ailinger

DAS KÖNNTE DICH AUCH INTERESSIEREN: