Unterwegs auf dem oberschwäbischen Jakobsweg

„Ultreya!“ auf dem Weg zum  Innersten.

vom 24. Aug 2023
Autor: Stefan Blank
Fotos: Don Ailinger, Kilian Bendel, Stefan Blank
© Stefan Blank
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„Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er ist eine Herausforderung und eine Einladung. Er macht dich kaputt und leer. Restlos. Und er baut dich wieder auf. Gründlich.“ Das Zitat stammt aus dem Buch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling, das erstmalig 2006 erschien. Millionenfach verkauft in vielen Ländern der Welt sorgte es sicher mit dafür, dass der Jakobsweg und sein (Heils-)Versprechen in aller Munde waren. Nachhaltig.
Allein 2022 wanderten 207.778 Pilger und 230.543 Pilgerinnen aus der ganzen Welt auf dem „Camino Francés“, der von St. Jean Pied de Port an der spanisch-französischen Grenze mehr als 800 Kilometer durch Spanien führt. Aus Deutschland kamen 23.212 Pilger*innen und schlugen den Weg nach Santiago de Compostela ein.

Aber warum in die Ferne schweifen? Auch durch Deutschland gehen etliche Kilometer des
offiziellen Jakobswegs. Von Ulm aus führt beispielsweise seit 1997 dessen oberschwäbischer Teil über Biberach und Steinhausen nach Bad Waldsee. Von dort hinunter ins Schussental mit dem Waldbad bei Baienfurt, Weingarten, Ravensburg und Brochenzell. Es folgen Markdorf, Meersburg und Konstanz. Der Weg ist gut mit der gelben Jakobsmuschel auf blauem Grund markiert, denn er wird von „Wegpatinnen“ und „Wegpaten“ betreut. Auch in Oberschwaben sind „echte“ Pilger*innen unterwegs und es gilt – getreu Hape Kerkeling: „Das Wesen des Pilgerns ist nun einmal der Weg.“

Jünger oder älter, mit Stock und Hut oder einfach unterwegs – am besten lässt sich der Oberschwäbische Jakobsweg zu Fuß erleben. © Don Ailinger

Wir waren dann mal weg, haben einen Teil des „Oberschwäbischen Jakobswegs“ erwandert, Menschen kennengelernt, Stille erfahren und viel erlebt.

„Mit all den Menschen, die diesen Weg gegangen sind, fühle ich mich hier mit einem Mal eng verbunden, mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, Ängsten, und ich spüre, dass ich diesen Weg nicht allein gehe.“ (*S. 91)

Kerkeling stieg im französischen St. Jean Pied de Port in seinen Weg ein. Wir haben es uns ein wenig einfacher gemacht und in Oberdischingen, südlich von Ulm, vorbeigeschaut. Auf dem dortigen Dreifaltigkeitsberg steht gegenüber der sehenswerten Wallfahrtskirche Heilige Dreifaltigkeit stolz das „Cursillo-Haus St. Jakobus“ – eine Pilgerherberge. „Kommt und ruht ein wenig aus …“ ist ihr Versprechen, dem Pilger auf dem Jakobsweg seit 1986 gerne folgen.

Mit ein wenig Glück ist Susanne Gast da und übt ihr Ehrenamt als „Hospitalera“ aus. Hospitalero oder Hospitalera werden laut Wikipedia „in Spanien Personen genannt, die eine Herberge, insbesondere Pilgerherberge, betreuen“. Und: „Sie sollten bereits nach Santiago de Compostela gepilgert sein und Pilger über Wegverlauf, Infrastruktur und zu erwartende Schwierigkeiten bzgl. des Weges in ihrer Gegend informieren können. Weiter sollen sie den Pilgern das Verständnis der Geschichte, Kunst und Kultur der Umgebung der Herberge erleichtern.“ All das kann und will Susanne Gast – eine Mittsiebzigerin voller Weisheit.

Seit fünf Jahren ist die ausgebildete Pilgerbegleiterin insgesamt vier Wochen im Jahr ehrenamtliche Hospitalera in Oberdischingen, seit 1996 pilgert sie und erlebt hat sie auf dem Weg und in ihrer Herberge schon alles. „Da war zum Beispiel ein Musiker, der barfuß und mit Dreadlocks bei uns hereinschneite und abends auf dem Staubsaugerrohr Didgeridoo spielte. Oder die muslimische Aktivistin, die ihre Bodyguards mitbrachte, da ihr Leben von Fanatikern bedroht wurde.“ Und da waren Hunderte von ganz normalen Pilger*innen mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, Ängsten. Und Problemen, Krankheiten und Alpträumen. Mit Krücken kamen sie, dem Rollator, sehbehindert – aber voller Energie.

Susanne Gast am Ziel ihrer Pilgerträume in Santiago de Compostela. Auf dem Weg dorthin wird bei allen Pilger*innen regelmäßig der Pilgerpass gestempelt. © Don Ailinger

„Ja, wenn man tagsüber alleine pilgert, dann will man abends reden.“

Susanne Gast
Hospitalera Cursillo-Haus St. Jakobus
 

Jeder Mensch sollte einmal den Jakobsweg laufen

 „Ja, wenn man tagsüber alleine pilgert, dann will man abends reden“ Susanne Gast hört zu. „Zum Glück habe ich eine seelsorgerische Ausbildung – und was hier erzählt wird, bleibt hier.“ Und wer länger pilgere, dessen Rucksack werde mit der abnehmenden Zahl an Müsliriegeln und Sonnencreme genauso leichter wie die Seele, die Ballast abwerfe. Pilgern sollten Frau und Mann übrigens alleine, davon ist Gast überzeugt, und am besten einfach ab der Haustür loslaufen. „Da spürst du den Unterschied zwischen Wandern und Pilgern. Das Wandern ist des Müllers Lust und abends geht’s in die Beiz. Beim Pilgern aber geht es dir um dein Innerstes, du musst immer weitergehen, weitermachen, woanders sein. Du musst mit wenig und vor allem dir selbst klarkommen, Stille erleben, bewusst Vogelstimmen hören oder in den Pyrenäen einfach den Geiern zuschauen. Und dann wird das was, dann erlebst du was. Es würde sicher nicht schaden, wenn jeder Mensch einmal den Jakobsweg laufen würde.“ Ein „Ultreya!“ gibt sie uns mit auf den Weg. Als mittelalterlichen Gruß, den die Pilger*innen benutzten. Er besteht aus „ultra-“, also „mehr“ und „-eia“, wohl als „weiter“. Also: „Lasst uns weitergehen!“

„(…) und ich habe Gelegenheit, noch einmal nachzudenken. Über den Weg. Er ist wundervoll. Manchmal auch hässlich und laut. Die Städte sind schön, beeindruckend, die Panoramen sind entspannend und einzigartig.“ (*S. 240)

 

Irene Klingler sorgt gemeinsam mit Margarete Schwarz als Wegpatin dafür, dass alle Zeichen und Schilder entlang des Wegs von Bad Waldsee nach Ravensburg sichtbar und lesbar sind. Denn wirklich jede und jeder soll den Weg problemlos begehen und innere Einkehr in den Kapellen suchen können. © Don Ailinger
Begegnungen, Offenheit und Herzlichkeit

Unser Weg beginnt im schönen und mit seinem See auch beeindruckenden Bad Waldsee unter der Obhut von Irene Klingler und Margarete Schwarz. Beide sind begeisterte Pilger-
innen und seit 2023 als Wegpatinnen Teil eines Teams der Schwäbischen Jakobusgesellschaft mit Sitz im Cursillo-Haus St. Jakobus für diese 6. Etappe des Oberschwäbischen Jakobswegs. Bis nach Weingarten führt sie. Rund 25 Kilometer, für routinierte Pilgersleut ein Klacks. Irene und Margarete (auf dem Jakobsweg sind wir alle per „Du“) kennen die Strecke wie ihre Westentasche. Sie haben sie mit dem Fahrrad abgefahren und sind zu Fuß durchs Gestrüpp getigert, um die neuen Schilder mit der gelben Jakobsmuschel auf blauem Grund in Sichthöhe an Bäumen und Metallstangen anzubringen. Es sind immer mehrere, die den rechten Weg weisen. Und wer sich auf selbigen begibt, sollte darauf achten, auch nach der „Quittierung“ zu schauen. Also dem zweiten Schild, das in der richtigen Richtung auf das erste folgt. Sich verlaufen macht aber auch nichts, denn „falsch gehen führt zu Begegnungen“, wie Irene erzählt. Begegnungen hatte sie reichlich, als sie 2022 gemeinsam mit Margarete auf dem portugiesischen Jakobsweg unterwegs war – „bis nach Finisterre, ans Ende der Welt.“ Denn beide pilgerten ohne mobile Daten, ohne google.maps, ohne Smartphone, einfach der Nase und eben der Beschilderung nach. Und wenn sie sich verlaufen hatten, dann war immer jemand da, der ihnen den richtigen Jakobsweg wies. „Einmal hat uns ganz spontan ein sehr hilfsbereiter Mann mit seinem Auto gut sieben Kilometer bis zur Herberge gefahren, wir waren schon über zehn Stunden unterwegs und erkundigten uns nach öffentlichen Verkehrsmitteln. Während der Fahrt stellte sich heraus, dass das der Bürgermeister war.“ Diese Begegnungen, diese Offenheit und Herzlichkeit brachten Irene und Margarete dazu, etwas zurückgeben zu wollen. Also wurden sie Wegpatinnen auf dem Oberschwäbischen Jakobsweg. „Denn der Weg hat viel mit mir gemacht, ich bin viel ruhiger und gelassener geworden“, sagt Irene. Margarete nickt zustimmend.

© Stefan Blank
Von „Peregrinos“ und „Tourigrinos“

Kurz hinter dem Friedhof von Bad Waldsee das erste Kerkelingsche Panorama. Denn am Horizont, hinter dem es natürlich immer weiter geht, grüßt Volkertshaus mit der Weilerkapelle
St. Mauritius und ihrem hübschen Zwiebeldächlein vom Moränenhügel herüber.

Gleich danach treffen wir auf eine Gruppe von sechs Pilgerinnen, ordnungsgemäß mit Muschel am Rucksack, dem Pilgerbüchlein in der Tasche, Trinkflasche im Zugriff und reichlich guter Laune. Conny, Hildegard, Moni, Daniela und die zwei Angelikas stammen aus Kempten und laufen von Bad Waldsee bis Konstanz. Das heutige Ziel ist Ravensburg. „Peregrino“ seien sie, Menschen, die „per“, also über den „ager“, den eigenen Acker, hinausgehen, quasi über den Tellerrand hinauspilgern. Und wer so eine Tour organisiert mache, der sei eben nur ein „Tourigrino“. Wir begegnen ihnen noch einige Male an diesem Tag, immer guter Laune und mit „Buen Camino!“ auf den Lippen. Dieser Gruß wurde im 20. Jahrhundert mit dem Aufschwung der Routen des Jakobswegs eingeführt und ergänzt heute „Ultreya!“.

„Alles wird eins: mein Atem, meine Schritte, der Wind, der Vogelgesang, das Wogen der Kornfelder und das kühle Gefühl auf der Haut. Ich gehe in Stille.“ (*S. 257)

© Don Ailinger
Der unruhige Geist kommt zur Ruhe

Irene hat zum Glück noch reichlich Möglichkeiten, Kapellen und Kirchen zu beschreiben, Bildstöcke vorzustellen und Zeichen zu deuten. Da gibt es die Sebastians-Kapelle von Arisheim, die wohl jüngste Sebastianskapelle Oberschwabens. Oder die Kapelle St. Georg zu Gwigg mit ihrem prächtig barocken Hochaltar. Oder die Sebastianskapelle Gambach mit dem Abbild eines Pferdes, dem ein Bein fehlt. Oder das hübsche Bildstöckle von Engenreute, das wir später auf dem Weg hinein in den Altdorfer Wald passieren. Und hier wird es ruhig. Stille um uns herum, in uns drinnen. Schritt folgt auf Schritt, das Auge schweift über das Grün, am Boden versteckt sich ein Mistkäfer, ein Milan kreist, links steht die Nesselblättrige Glockenblume und nickt uns zum Abschied zu. Wir passieren mit Tiefweiher und Hummelbühl zwei von unzähligen „Abteilungen“ im Altdorfer Wald, über deren Namensfindung es sich nachzudenken lohnt. Oder vielleicht auch nicht. Der sonst unruhige Geist befindet sich im Ruhemodus und bleibt auch dort. Noch drei Stunden bis Ravensburg – vorbei an der Basilika Weingarten und der Jakobuspilger-statue des brasilianischen Künstlers Cláudio Pastro – mit Atem, Schritten, Wind, Vogelgesang, Panoramen und Stille.

Die prächtig barock ausgestaltete Kapelle St. Georg zu Gwigg gehört zu den Highlights auf dem Weg. Irene Klingler weiß so manche Geschichte zu erzählen, die Pilger*innen zum Staunen bringt. © Don Ailinger
Unterschiedliche Typen und Lebensentwürfe

Hier erwartet uns Christiane Böhm, die gemeinsam mit ihrem Mann Pilger*innen ein Privatquartier bietet. Seit 20 Jahren, einfach so. Ohne den Jakobsweg gepilgert zu sein. „Wir haben einfach gerne Leute bei uns. Und ich finde es total toll, mit Menschen, die ich überhaupt nicht kenne, ins Gespräch zu kommen“, sagt die ehemalige Lehrerin und kann so manche Anekdote erzählen. Wie die von dem weit über 80-jährigen Paar, das nur einen „Kinderrucksack“ dabei hatte und jeden Tag auf dem Weg nach Santiago einfach so weit pilgerte, wie es die Füße zuließen. „Ganz unterschiedliche Typen und Lebensentwürfe kommen hier bei uns vorbei – für uns ist das ein sehr schöner Blick über den Tellerrand.“

„Wenn wir am Ziel sind, ist es einfach vorbei; das Wesen des Pilgerns ist nun einmal der Weg.“ (*S. 349)

Am nächsten Morgen treffen wir Conny, Hildegard, Moni, Daniela und die zwei Angelikas aus Kempten wieder. Am Abend vorher sind sie nach Essen und einem Gläschen Rotwein ins Bett gekippt, nach dem Frühstück um 8 Uhr und etwas Magnesium geht’s weiter. Markdorf ruft. „29 Kilometer, boah!“ Noch Wasser und Wecken in den Rucksack, durch den Bahnhof hindurch und ab der Mühlbruckkapelle sind es noch rund 2380 Kilometer nach Santiago. Ultreya!

*Verwendete Literatur: Kerkeling, Hape (Neuausgabe 2021): Ich bin dann mal weg, München: Piper.
Christiane Böhm freut sich über Pilger*innen, mit denen sie gerne ins Gespräch kommt. © Don Ailinger
Conny, Hildegard, Moni, Daniela und die zwei Angelikas aus Kempten starten gut ausgeruht in den Pilgertag. Der freundliche Rezeptionist gibt ihnen noch so manchen Tipp für den weiteren Teil der Reise mit. Dann geht’s los – 29 Kilometer bis Markdorf. © Don Ailinger

Making of #meinschussental Unterwegs auf dem oberschwäbischen Jakobsweg © Don Ailinger

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