Der Altdorfer Wald ist mit gut 8.000 Hektar der größte Wald in Oberschwaben. Lange Zeit war er in Vergessenheit geraten, gerade wird wieder über ihn gesprochen. Da geht es um einen Regionalplan, den etliche Menschen ablehnen, Klimaschützer*innen zeigen in einem Camp ihren Unmut über den geplanten Kiesabbau – und in Zukunft sollen sich hier Windräder drehen. Höchste Zeit also, in den Altdorfer Wald, die „grüne Lunge Oberschwabens“, einzutauchen.
Der Altdorfer Wald sei „ein Herzstück der Region, eine Oase der Naherholung, ein Bilderbuch der Natur, ein Lehrbuch der Waldwirtschaft, ein Paradies für Wanderer – die grüne Lunge von Oberschwaben“. So steht es geschrieben auf der neuen Wanderkarte des Altdorfer Waldes. Mit ausgedacht hat sich die Karte Rudi Holzberger, seines Zeichens Diplom-Agraringenieur und Waldkenner. Mit ihm sind wir unterwegs und treffen dabei den Forstbezirksleiter Bernhard Dingler, die reitende Nachhaltigkeitsmanagerin Hilke Patzwall und Maike Hauser vom BUND Ravensburg.
Rudi Holzberger, sein Name ist Programm, stammt aus einer Gegend im Allgäu, die bis heute mit dunklen Wäldern und hohen Bergen beeindruckt: der Adelegg. Er erkundete dieses Kleinod über viele Jahre, widmete ihr als dem „dunkle(n) Herz des Allgäus“ ein Buch und bemerkte bald, dass keiner wirklich wusste, was die Adelegg eigentlich darstellt. Also musste eine Karte her. Diese gibt es auf seine Initiative hin seit 2007 und die Adelegg kann heute als ergründet gelten. Ganz anders der Altdorfer Wald. 1984 zog Holzberger der Familie wegen ins Schussental und joggte in den 1980er-Jahren hier fürs Marathontraining. „Damals konntest du stundenlang laufen und dir ist kein Mensch begegnet. Und von denen, die sich hineingewagt haben, haben sich etliche verlaufen. Es gab ja keine Karte.“ Also machte Holzberger aus der kartenlosen Not eine Tugend, erforschte den Altdorfer Wald, tauchte ein in die Wald-Erfahrung und rückte ihn im September 1987 ins Licht der Öffentlichkeit: „Altdorfer Wald: Kundschaft aus einem deutschen Forst“ war der Titel seiner Reportage, die im Magazin GEO erschien. Schon damals war ihm klar: „Wer die Natur erfahren will, muss sie zu Fuß erkunden.“
Rudi Holzberger erkundet den Altdorfer Wald am liebsten von Baindt aus und hat seine frisch gedruckte, im regionalen Buchhandel erhältliche Wanderkarte immer im Gepäck – genauso wie zahlreiche Anekdoten. © Don Ailinger
Heute ist Holzberger Journalist und Autor, Rinderhändler und Skiliftbetreiber, Herausgeber des Magazins „LandZunge“ und seit 1995 Dr. phil. mit dem Promotionsthema „Das sogenannte Waldsterben. Zur Karriere eines Klischees“. Er denkt viel über den Wald nach und steht damit in bester Tradition: „In den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man jahrelang im Moos liegen könnte“, schrieb beispielsweise der Schriftsteller Franz Kafka 1918 auf einer Postkarte von einer Böhmerwaldreise an seinen Freund Max Brod. Zu den Dingen, über die sich das Nachdenken lohnt, gehört beispielsweise die Beschilderung der Wege im Wald. „Man sollte den Wald nicht totschildern. Denn nur, wenn ich versuche, mich zu orientieren und dabei mein Hirn anstrengen muss, kann das zu spannenden Lehrstunden führen“, sagt Holzberger und lässt den Zeigefinger über die Wanderkarte gleiten bis zu einem speziellen Namen einer „Abteilung“ – einer Flächeneinheit im Forst, die zur Orientierung dient. „‚Nonnenhorst‘ ist wohl eher der Nonne, also dem Großschädling an Fichte und Kiefer, geschuldet als den Angehörigen eines Frauenordens. ‚Elend‘ ist eine verballhornte Einöde und ‚Möser’ dürfte mit einem Feuchtgebiet zu tun haben.“ Dann gibt es Schwefelbrunnen, Ochsenkopf und Schelmenbuckel – Namen, die die Phantasie anregen, und Waldgeschichte wird lebendig. Holzberger ist ein Profi für knuffige Beschreibungen, die bei Besucher*innen hängen bleiben. „Der Altdorfer Wald ist eine Schönheit auf den zweiten Blick, er ist wie Slow Food, hier kann der Mensch meditativ eintauchen und die besondere Atmosphäre spüren. Der Wald beruhigt, das Spiel aus Licht und Schatten tut gut. Kurz: Der Wald ist die Welt.“
„Der Altdorfer Wald ist eine Schönheit auf den zweiten Blick.“
Dipl.-Agraringenieur, Journalist und Autor
Dieses „aufgeschlagene Buch der Natur“ erkundet Holzberger am liebsten ab dem Grünenberg bei Baindt. Hier, direkt am Parkplatz, beginnt „sein Pfad“. „Hier gehen wir rein. Bis zum Ende des Pfads sprechen wir nicht, dann sprechen wir darüber.“ Denn der Pfad sei die eigentliche Erfahrung, Wald und Wildnis fange neben dem Weg an. „Daher sollten wir den rechten Weg durchaus auch mal verlassen.“
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In den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man jahrelang im Moos liegen könnte.“
Den rechten Weg zu verlassen, das ist im Altdorfer Wald erlaubt. Dazu, wir sind in Deutschland, braucht es ein Gesetz. So erklärt § 14 (1) Bundeswaldgesetz: „Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet.“ Im Landeswaldgesetz Baden-Württemberg heißt es in § 37 (1) „Jeder darf Wald zum Zwecke der Erholung betreten“, und Bernhard Dingler hat kein Problem damit, wenn Waldbader*innen den rechten Weg verlassen. „Zwischen den Bäumen herumlaufen ist in Ordnung. Besucher*innen dürfen die Tiere nicht stören, nichts kaputtmachen und trotzdem einen Handstrauß Blumen pflücken.“ Dingler muss es wissen, denn er ist Forstbezirksleiter bei Forst Baden-Württemberg und zuständig für den Altdorfer Wald. Wir treffen ihn am Ende von Holzbergers Pfad, haben bisher Eschen und Eiben gesehen, Buchen und Eichen, absterbende Bäume, Astlöcher und Faulstellen als Lebensraum für Käferarten und andere Lebewesen, haben den Wald erspürt und hätten am liebsten so manchen Baum umarmt.
Dingler ist eine Quelle des Wissens rund um den Altdorfer Wald. 90 Mitarbeiter*innen hat er in seinem Forstbezirk, er macht Öffentlichkeitsarbeit für die großen Besucher*innen, Waldpädagogik für die kleinen und sieht sich und sein Team als „Treuhänder des Waldes“. Die Geschichte unseres Waldes kann er weit zurück erzählen, die Entwicklungen über die Zeitläufte plastisch schildern. So war’s im 11. Jahrhundert vorbei mit dem Urwald in Oberschwaben, der Altdorfer Wald war erschlossen. Die Klöster ergatterten Beholzungsrechte, es wurde gerodet und die gewonnenen Flächen landwirtschaftlich genutzt. Rund 250 Wasserquellen entspringen im Wald. Da war es nur konsequent, dass das Kloster Weingarten den „Stillen Bach“ als weitreichendes Kanalsystem mit einer Gesamtlänge von 11,5 Kilometern anlegen ließ. Heute sind hier – denkmalgeschützt – immer noch mehrere Kanäle und einige Weiher miteinander vernetzt. Um 1191 gelangte der Altdorfer Wald aus welfischem Besitz an die Staufer und Mitte des 13. Jahrhunderts fiel er als Reichsbesitz an die Landvogtei Oberschwaben. Im 16. Jahrhundert wurde er kräftig verwüstet, die am Hungertuch nagende Landbevölkerung schlug hier Holz und entnahm andere Waldprodukte, um ihre ärmlichen und zugigen Hütten zu beheizen. Sie hielten Vieh, Schweine und Rinder, und „Ende des 16. Jahrhunderts rauchten im ganzen Wald die Kohlemeiler und Brennholz wurde knapp“, so Dingler.
Bernhard Dingler sieht den Altdorfer Wald seit jeher als vielfältigen, multifunktionalen Dienstleister mit einer großen Bedeutung als Rohstoff- und Energielieferant, mit Schutz- und Erholungsfunktion. © Don Ailinger
Und heute sieht der Altdorfer Wald als Holzbergers „aufgeschlagenes Buch der Natur“ so aus: Er besteht hauptsächlich aus Fichten-, Tannen-, Eichen- und Buchen-Mischbeständen und anderen Laubbaumarten, die teilweise geschützt sind. Auf nassem Untergrund gedeihen in Moor- und Auenwäldern Erlen, Eschen und Weiden. Im Wald da gibt es Frauenschuh und Orchideen, das Rote Waldvögelein und das Helm-Knabenkraut, braunrote Ständelwurz und Purpurknabenkraut. Die Lüfte werden bevölkert von mehr als 64 Vogelarten, von Waldkauz bis Waldschnepfe, von Weidenmeise bis Wespenbussard. Bodenwärts finden wir unter anderem die Schmale Wendelschnecke und die Vierzähnige Wendelschnecke, Kammmolch, Laubfrosch und Gelbbauchunke. Bei den Insekten wäre die seltene Helm-Azurjungfer zu nennen oder der Goldene Scheckenfalter.
„Eine Energie- und Holzerzeugung durch die Photosynthese unserer Waldbäume – das ist mir die liebste.“
Forstbezirksleiter Forst Baden-Württemberg
Aber, bei aller Schönheit: Bernhard Dingler sieht den Altdorfer Wald seit jeher als vielfältigen, multifunktionalen Dienstleister mit einer großen Bedeutung als Rohstoff- und Energielieferant, mit Schutz- und Erholungsfunktion. „Der Wald speichert CO2, Holzproduktion ist Klimaschutz und Wasserkraft wird schon lange genutzt. Von hier kommen heimisches Wild und Fische, Holz, Kies, Sand, Steine, Erden, Ton und Tuff sowie der Torf, der lange Zeit das Heizmittel der armen Menschen war. Durch die Bereitstellung der Windkraft kommt dem Wald jetzt noch eine neue Bedeutung zu.“ Denn Oberschwaben habe realistisch wenige Windkraftstandorte außerhalb der Waldflächen. „Und wenn wir gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen und gleichzeitig mit der Energiewende Ernst machen wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als von den fossilen Energiequellen wegzukommen hin zu den regenerativen. Die Windkraft gehört dazu.“ Bei der Betrachtung von Windkarten und Windhäufigkeit liegt es nahe, dass auch im Altdorfer Wald Windräder geplant und zugelassen werden. Denn es gibt auch hier Gebiete, die für den Naturschutz nicht so wertvoll sind wie andere. „Wichtig ist, dass wir frühzeitig in die Planungen einbezogen und dann die Eingriffe möglichst gering gehalten werden.“ Natürlich würden wertvolle Waldbiotope und Naturschutzbelange berücksichtigt und dank Neubepflanzungen als Ausgleich werde der Wald auch nicht kleiner. „Ich finde, dass die Windkraft in einer guten Tradition steht – der des Altdorfer Waldes als Energie- und Rohstofflieferant.“
Konkret in Planung ist bisher der Windpark Röschenwald, der zwischen Wolpertswende und Durlesbach liegt, aber sogenannte Potenzialflächen für einen möglichen Windräderstandort sind bereits skizziert. Dazu gehört auch die Abteilung Ehrenbühl, oberhalb von Vogt gelegen. Hier begegnen wir Hilke Patzwall und ihrem Wallach Amadou.
„Im Wald ist Platz für alle,
nur Rücksicht braucht’s.“
Nachhaltigkeitsmanagerin VAUDE sports
Ein Wald für alle.“
„Der Wald ist ein Ort zum Abschalten
und zum Entdecken.“
Bachelor Nachhaltiges Regionalmanagement, BUND