Die Sektorenkopplung und ihre Möglichkeiten

Mit grünem Wasserstoff in die Zukunft

vom 9. Mai 2023
Autor: Stefan Blank
Fotos: Don Ailinger
© Don Ailinger
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Die erneuerbaren Energien sind seit Jahren ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Deutschland. Im Jahr 2020 wurden elf Milliarden Euro in Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien investiert. Gleichzeitig stieg ihr Anteil am Bruttostromverbrauch auf 45,4 Prozent und 227 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen konnten so vermieden werden. Beeindruckende Zahlen, hinter deren Umsetzung viele Ideen und Visionen stecken.

Um die gesetzten Klimaziele zu erreichen, sollten wir alle insgesamt Energie sparen und gleichzeitig den Strom aus erneuerbaren Quellen vielseitiger nutzen. Bei „vielseitig“ gilt es, die Möglichkeiten zu entdecken. Sektorenkopplung ist die Gesamtheit aller Möglichkeiten, Strom zu nutzen. Sie ist laut Tobias Ederer, Referent Strategische Netz- und Anlagenplanung bei der TWS, schlicht die Zukunft der Versorgung.

„Die Sektorenkopplung ist eine technische Wundertüte“, sagt Tobias Ederer. „Du verbindest Forschung und Mut mit intelligenter Anlagentechnik, und Energie kann je nach Bedarf in die unterschiedlichsten Ausprägungen gewandelt werden.“ Die Idee ist, dass dank der Sektorenkopplung immer und überall nutzbare Energie zur Verfügung steht. Egal, wie schnell sich die Windräder in Norddeutschland on- und offshore drehen oder wie intensiv die Sonne auf die Dörfer Oberschwabens scheint, deren Dächer mit Photovoltaikanlagen geschmückt sind. Immerhin ist heute die Windkraft – hinter den Kohlekraftwerken – die zweitwichtigste Energiequelle in Deutschland. Ihr Anteil an der Stromerzeugung lag 2022 bei 24,7 Prozent. 2021 waren es noch 22,5 Prozent. Die installierte Gesamtleistung der Photovoltaikanlagen der Bundesrepublik stieg 2022 im Vergleich zu 2021 um rund 18,7 Prozent und erreichte dadurch einen Anteil von 10,9 Prozent an der eingespeisten Strommenge. Baden-Württemberg liegt mit 10,8 Prozent genau im Durchschnitt. Unterdurchschnittlich ist allerdings bisher die Photovoltaikleistung in Ravensburg. Heruntergerechnet auf 1000 Einwohner*innen waren Ende 2021 nur für 587 Kilowatt Photovoltaikanlagen installiert.

Grünem Wasserstoff gehört die Zukunft

Wir können dank Wasserstoff bei all diesen Energiequellen aus ganz Deutschland und dem Ausland Überangebote und Synergien nutzen, um die gelieferte Energie zu verändern und sie dann jederzeit wieder einsetzen zu können.“ Denn bis heute importiert Deutschland Strom: 2022 waren das 49,3 Milliarden Kilowattstunden, also etwa ein Zehntel der Inlandsproduktion. Die Aufgabe ist, die gelieferte Energie zu transformieren und jederzeit nutzbar zu machen. Denn die Zeiten von Erzeugung und Verbrauch liegen oft auseinander. Intelligente Systeme können Angebot und Nachfrage durch Lastverschiebung teilweise ausgleichen. Zusätzlich können Batterien und Pumpspeicher die Energie zwischenspeichern. Durch den Einsatz von Wasserstoff – idealerweise selbst nachhaltig erzeugtem und damit grünem Wasserstoff – besteht die Möglichkeit, Energie über einen längeren Zeitraum zu speichern.

Grüner Wasserstoff wird durch die Elektrolyse von Wasser hergestellt. Für diesen Prozess wird Strom aus erneuerbaren Energiequellen verwendet. Daher ist Grüner Wasserstoff CO₂-frei. Ganz im Gegensatz zu Grauem Wasserstoff, bei dessen Herstellung rund 10 Tonnen CO₂ pro Tonne Wasserstoff entstehen, welche dann in die Atmosphäre gelangen. „Wir setzen auf Grünen Wasserstoff, denn als ökologisch ausgerichtetes Unternehmen setzen wir ausschließlich auf erneuerbare Energiequellen.“ Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Herstellung von Wasserstoff derzeit noch sehr kostenintensiv ist und sich so der Einsatz für die breite Masse nicht lohnt.

„Wir müssen selbst Lösungen entwickeln.“

Tobias Ederer
Referent Strategische Netz- und Anlagenplanung, TWS
Wie aber können wir die Industrie hier im Schussental mit grünem Wasserstoff versorgen? Denn die sogenannten Wasserstofftrassen, also die Leitungen, die beispielsweise aus Dubai
oder Island gelieferten Wasserstoff von den Häfen des Nordens in den tiefen Süden transportieren, werden voraussichtlich erst frühestens 2035 Richtung Bodensee ausgebaut. Den Kern bilden dabei Rohre, die bislang für Erdgas genutzt werden. Mit einer Gesamtlänge von mehr als 505.000 Kilometern befördern die Erdgasleitungen Deutschlands jährlich schon jetzt doppelt so viel Energie wie das komplette Stromnetz. „Zuerst werden die Ballungsgebiete (z. B. Stuttgart) mit großem Bedarf an hoher thermischer Energie (Stahl, Glas etc.) mit Wasserstoff beliefert. Wenn H₂ in größerer Menge verfügbar sein wird, kann die Fläche versorgt werden. Die private Gastherme im Neubau wird aber dann nach jetzigem Kenntnisstand nicht in den Genuss von Wasserstoff kommen, vermutlich auch keine Beimischung. Hier wird die Wärmepumpe oder Fernwärme dominieren.“ Damit die Region Oberschwaben nicht in Vergessenheit gerät, helfen konkrete Projekte und Innovationsdruck, um die Anbindung an die großen nationalen und internationalen Wasserstofftrassen in Richtung Oberschwaben zu beschleunigen. „Aber bis dahin können wir nicht warten“, so Ederer, „wir müssen selbst Lösungen entwickeln.“ Denn es gehe der TWS auch und vor allem darum, den Energiebezug von großen Kraftwerken und fernen Quellen zu verringern.
Die Nachfrage nach Strom steigt und sinkt im Laufe eines Tages. Das Angebot aber kann da nicht immer mithalten. Also muss eine Lösung her, mit der jederzeit Energie verteilt werden kann.
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Sektorenkopplung als Blackbox

Wie das geht? „Am besten betrachten Sie diesen sperrigen Begriff ‚Sektorenkopplung‘ als eine Art Blackbox, in der alle Energieformen miteinander verbunden werden. Diese können wir dann als Wärme, Strom oder in anderen Ausprägungen weiterverwenden.“ Fallen viel Wind und Sonne an, kann der überschüssige Strom in Wasserstoff umgewandelt und zwischengespeichert werden. Ist es sehr kalt, die Sonne scheint nicht und kein Lüftchen weht, dann entsteht aus dem gespeicherten Wasserstoff Strom und Wärme z. B. in Blockheizkraftwerken, die die Wärme in ein Wärmenetz einspeisen. Bei der Sektorenkopplung geht es darum, die Einzelsektoren Strom, Wärme und Verkehr miteinander mittels innovativer Anlagentechnik zu verknüpfen. Speicherbare Energie wie Wasserstoff spielt hier eine große Rolle. Dazu gehört auch die Nutzung vielseitiger Energiequellen wie Erdwärme und Biogas. Dieses nutzt die TWS heute schon im Fernwärmenetz. „Wir als Region werden so autark wie möglich und kümmern uns zum Großteil um unsere eigene Energie. Damit übernehmen wir als zuverlässiger Versorger Verantwortung für die Region. Heute mit Biogas, morgen mit Wasserstoff, Wärmepumpe oder Geothermie. Wir setzen nicht nur auf ein Pferd.“

Tobias Ederer braucht nur wenige Striche am Whiteboard, um die Funktionsweise der Sektorenkopplung zu erklären – als Ausblick auf die Zukunft der Energie. © Don Ailinger
Zukunftsmusik? Ederer ist da ganz klar: „Wir sind gerade jetzt dabei, erste Wasserstoffprojekte und Sektorenkopplungen aus einer Zukunftswerkstatt und ihren Laborbedingungen in die reale Welt des Schussentals zu überführen. Dabei geht es mir persönlich auch um die Zukunft der kommenden Generationen. Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit dürfen hier nicht als zwei Gegenpole, sondern als die langfristig einzige Lösung betrachtet werden. Bei der TWS beginnt Zukunft schon heute mit mutigen, überlegten Schritten – man darf gespannt sein, was noch kommt.“

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