Vier Orte, ein Anspruch: Im Schussental wird Geschmack gemacht.

Echter Genuss hat Handschrift.

vom 28. Nov. 2025
Autor: Sandra Huth
Fotos: Don Ailinger
© Don Ailinger
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Weltoffen kochen, radikal bio servieren, naturrein backen und seit Jahrzehnten Teig führen: Im Schussental trifft Haltung auf Handwerk. Wir fragen „Genuss-Handwerker“ nach der Bedeutung von gutem Essen.

Vier Türen. Vier Handschriften. Ein roter Faden. Das Schussental ist dicht an Ideen, an Überzeugungen, an Menschen, die lieber präzise arbeiten als glatt zu reden. Der Michelin-prämierte Kaisersaal, die gläserne Naturpatisserie Obermayer, der Demeter-zertifizierte Adler in Vogt und Bio-Pionier Decker berichten vom Wert des Genuss-Handwerks und der Kunst, mit einfachen Mitteln Großes zu schaffen.

1. Restaurant Kaisersaal

Weltoffen, saisonal, französische Basis: Kochen im Kubus

Das Restaurant Kaisersaal liegt im 2022 eröffneten Hotel Kaiserhof nahe des Ravensburger Bahnhofs. Ein ehemaliger Ballsaal mit hohen Stuckdecken, hellem Parkett und einem Glaskubus in der Mitte. Die Küche ist damit kein Backstage, sondern Teil der Bühne. Sternekoch Kevin Leitner führt ein auffallend junges Team, der Ton ist locker, der Ablauf detailliert organisiert.

Chefkoch Kevin Leitner in der gläsernen Küche des Gourmet-Restaurants Kaisersaal. Exquisites aus der Sterneküche in lockerer Atmosphäre. © Don Ailinger

Leitners Küche ruht auf einer französischen Basis. Jus und Fonds werden klassisch gekocht und modern interpretiert: Fermentation, Einlegen, klare Säurepunkte, kein „Lack“. Das Programm ist a la carte statt reinem Menü. Ungewöhnlich für eine Sterneküche, aber folgerichtig für ein Haus, das Gäste dort abholen will, wo sie kulinarisch stehen.

„Bei uns schmeckt Kohlrabi nach Kohlrabi. Aromen bleiben klar.“

Kevin Leitner
Chefkoch im Restaurant Kaisersaal

Saisonalität ist Leitners „A und O“. Regionalität ist willkommen, aber kein Dogma: Amalfi-Zitronen, wenn sie in Italien Saison haben (Schale zu Confit, Fleisch zu Zitronenmark), Clementinen und Mandarinen im Winter; zur lokalen Saison Spargel und Erdbeeren. Ein Gericht hat eine Laufzeit von 4–6 Wochen. Ein System, das Flexibilität erlaubt und Witterung aufnimmt: Als der Spätsommer warm blieb, lief die Wildessenz zaghaft an, doch mit erstem Pilzduft und Spitzkohl wurde sie zum Favoriten.

Die Kaisersaal-Handschrift verspricht geschmackliche Tiefe ohne Verfremdung, Frische und Leichtigkeit, Saucen, die ergänzen und „löffelbar“ sind. Kein Gericht übertönt das andere; alles greift ineinander, erklärt der Küchenchef. „Ein festes Signature-Gericht, als Erkennungszeichen unserer Küche, haben wir nicht. Am ehesten bildet das aber der Steinköhler ab, eine Kabeljau-Art, wegen seiner verlässlich hohen Qualität. Wir mögen ihn pur, präzise, mit Zitrus- und Wurzel-Akzenten.“

Die Transparenz des Küchen-Kubus prägt auch den Service: Köchinnen und Köche servieren mit, wenn der Service beschäftigt ist. Man spricht mit den Gästen, bringt das Petit Four, den süßen Abschluss als kleine, feine Geste des Hauses, persönlich. Der Ablauf wird ständig justiert: Vor dem Hauptgang gibt’s mittlerweile eine kleine Erfrischung, die „fast immer am besten ankommt“. Führung versteht Leitner als Kapitänsrolle. Was dazugehört? Verantwortung tragen, Druck nehmen, den Laden voranbringen – und ausbilden. Im Kaiserhof lernen derzeit sieben Auszubildende in der Küche.

Das Konzept der Transparenz scheint unter den Gastronomen immer mehr an Bedeutung zu gewinnen. Auch die 2024 eröffnete Patisserie Obermayer in der Ravensburger Roßbachstraße setzt auf „Handwerk hinter Glas“.

2. Patisserie | Chocolaterie | Broterie Obermayer

Naturpatisserie hinter Glas

Wo einst Mode über den Ladentisch ging, zeigen heute Melanie und Moritz Obermayer eine Patisserie, die ihr Handwerk sichtbar macht: 100 % Transparenz, die ganze Produktion hinter Glas. Der Umbau war ein echter Kraftakt mit viel Eigenleistung. Heute bäckt und bedient ein junges Team in weißen Obermayer-Shirts und Schildmützen. Im Café stehen Trockenblumen nebst Zuckerdöschen auf kleinen Holztischen unter stylischen Kupferlampen. Der Cappuccino kommt mit Herz, auf Holzbrettchen und mit Wasserglas.

Melanie & Moritz Obermayer, die nach Ravensburg zogen, um eine Patisserie, Chocolaterie und Broterie zu eröffnen. © Don Ailinger

„0,0 Convenience. Wir machen Nougat & Co. selbst.“

Das Konzept Naturpatisserie verzichtet auf Backmischungen, Farbstoffe und Plastikverpackungen. Die Packmittel bestehen aus Maisstärke oder unfoliertem Papier. Einzig bei Törtchen fordert das Gesetz eine Beschichtung. Moritz Obermayer verarbeitet Haselnüsse aus dem Dachauer Land zu eigener Nougatmasse. Rückverfolgbare und faire Grand-Cru-Schokolade bildet die Basis der Chocolaterie. Aus Natursauerteig und Langzeitführung entstehen Brote mit Charakter. Aus regionalem Mehl, Wasser, Salz und echtem Handwerkswissen.

Geschmacklich herrscht Purismus: Produkte sollen in erster Linie nach ihrer Hauptzutat schmecken. So nutzt das berühmte Apfel-Törtchen eine alte Zitronenapfel-Sorte aus der Region und übersetzt sie in mehrere Texturen: Biscuit, Kompott, Gelee, Mousse. Die Theke ist bunt: durch eingelegte Zieräpfel, Beeren und Kräuter, nicht durch Farbstoff.

Bestseller sind die Dinkelseelen. Das ist etwas pikant, denn offenbar haben die zugezogenen Obermayers, als Nicht-Schwaben, „unsere“ Dinkelseelen perfektioniert. Darüber schmunzeln der Chiemgauer Konditormeister und die Schwarzwälder Veranstaltungskauffrau gerne und sind mehr als nur ein bisschen stolz auf den einschlagenden Erfolg: „Am ersten Samstag nach Eröffnung nutzten wir 20 kg Dinkelmehl für die Seelen, am zweiten 30, dann 40, 50. Sie waren jedes Mal am Vormittag ausverkauft.“ Inzwischen produ-
zieren die Obermayers deutlich mehr.

„Industrie kann viel. Gefühl kann sie nicht.“

Moritz Obermayer
Konditormeister

Wochentags wird in der kleinen Backstube ab 5 Uhr gebacken. Dinkelbrot führt die Brotstatistik an. Die Viennoiserie (Croissants & Co.) verlangt samstags einen Frühstart ab 2, manchmal 3 Uhr. Geplant wird über drei Tage: Kochstücke und Sauerteige an Tag 1, Teige mischen/aufarbeiten an Tag 2, am Morgen von Tag 3 wird gebacken.

Dank der Glasscheibe können Produktion und Verkauf bei den Obermayers optimal interagieren – wer vorne die Hände frei hat, hilft hinten und umgekehrt. „Was unser Brot auszeichnet, ist neben der Bekömmlichkeit und Nahrhaftigkeit die Haltbarkeit. Da kann die Industrie nicht mithalten. Und das rechtfertigt letztlich auch einen höheren Preis“, erklärt der Chef.

„Unser Konzept ging auf“, resümiert Melanie Obermayer. Obwohl die Konkurrenz in Ravensburg nicht schläft, brummt der Laden. Die Kunden spüren einfach, wenn die Qualität passt, und kommen wieder. Und die Transparenz schafft Wertschätzung – für Preis und Aufwand.

Einen gänzlich anderen Transparenz-Ansatz leben die Wirtsleute des Bio-Landgasthofs Adler in Vogt.

3. DER BIO-ADLER: HOTEL & RESTAURANT

Demeter aus Überzeugung, Wirtshaus aus Herz

In Vogt steht ein Fachwerkhaus von 1800: der Adler. Hotelfachfrau Nicole und Ehemann und Koch Andreas Humburg kauften ihn 1998, renovierten mit Respekt die teils denkmalgeschützten Räumlichkeiten und servierten zunächst klassische bayerisch-schwäbische Wirtshausküche. Die Gaststube brummte. 2012 dann der konsequente Schnitt: Umstieg auf Bio. Und zwar nicht nur EU-Bio, sondern auf Demeter-zertifizierte Produkte – nicht aus Druck, sondern Überzeugung. Eine Antwort auf konventionelle Tierhaltung, Geflügel- und Schweineskandale und die Frage: „Können wir das guten Gewissens servieren?“

In der Adler-Küche entsteht Genuss: alles hausgemacht, alles bio, alles mit Überzeugung. © Don Ailinger

Eingekauft wird nur bei bio-zertifizierten Betrieben. Auf ihrer Speisekarte nennen die Humburgs sämtliche Lieferanten, unter anderen: Grasser Hof, Marktanner Hof, Pfluger in Mosisgreut, Bauernhof Blank in Wolfegg, Metzgerei Buchmann und der Bio-Bäcker Decker. Dazu regionaler Fasswein (weniger Glas), Ökostrom (TWS) und Bio-Reinigungsmittel. Auf den Tischen stehen Bio-Kerzen aus rein pflanzlichem Stearin, in den Hotelfluren liegt Ziegenhaarteppich. Manche regionalen Produkte wie Wild, Fisch, Bärlauch und Pfifferlinge lassen sich nicht bio-zertifizieren. Auch das wird kommuniziert.

Bio-Produkte sind teurer: etwa x2 bei Obst und Gemüse, beim Fleisch oft x4. Die Humburgs reagieren mit Transparenz und Handwerk: Eier kommen als Ei nicht aus dem Tetrapack; Hollandaise wird aus geschmolzener Rollbutter zubereitet; Kartoffelstroh wird selbst frittiert; Eis ist hausgemacht; Soßen sind glutenfrei. Umbestellungen und Unverträglichkeiten? Kein Problem, ohne Aufpreis. Auf dem Teller bleibt es Wirtshaus, nur besser: Zwiebelrostbraten, Cordon Bleu, Wild, SchniPoSa und Kaiserschmarrn, alles in höchster Bio-Qualität. Das Adler-Markenzeichen sind die Maultaschen. Komplett selbstgemacht variieren sie je nach Saison: mal mit Spinat-Ricotta, mal mit Kürbis, mit Wild oder Kalb.

„100 % bio – vom Fleisch bis zur Kerze auf dem Tisch.“

Andreas Humburg
Inhaber Bio-Adler

Dass Kalbfleisch im Adler rötlicher ist, sorgt für Gesprächsstoff – und für Wissensvermittlung durch den Service. Mutterkuhhaltung bedeutet: Das Kalb hatte eine etwas längere Lebenszeit und indessen Zugang zu Heu, Gras und Muttermilch. Die Ernährung und das Alter des Tieres beeinflussen die Farbe des Fleisches. Wussten Sie das?

„Entweder so oder gar nicht“, konterte Andreas Humburg nach der Umstellung auf bio, als die Besucherzahlen anfangs aufgrund der gestiegenen Preise rückläufig waren. Rückblickend sind die Humburgs dankbar für ihre Konsequenz und den langen Atem. Der Erfolg kam mit Verzögerung. Doch er kam – und blieb.

„Wir haben das Gefühl, dass die Gäste seit der Umstellung gelassener, wertschätzender und mit mehr Zeit kommen. Und es sind nicht unbedingt die Besserverdienenden. Viele entscheiden sich bewusst für unser Essen und gegen anderes.“

Manche im Adler-Team arbeiten bereits seit 1998 hier. Die Atmosphäre ist familiär. So findet man in der Karte auch den Hinweis: „Unsere Geschmacksverstärker haben Vornamen: Andreas, Gaby, Markus, Sevil, Mirella, Livia.“

Als die Humburgs 2012 auf bio umstellten, war das Thema Nachhaltigkeit längst noch nicht so etabliert wie heute. Kommentare wie „Die sind doch sonderbar“, „Was für Spinner“ oder „Naive Idealisten“ mussten sich die Vorreiter gefallen lassen. Ähnlich erging es einem Bodnegger Bäcker einige Jahre zuvor, weswegen ihm „ein frühes Ende“ prophezeit wurde …

4. Bio-Bäcker Decker (Bodnegg)

Sauerteig, Hefe, Hand: 40 Jahre Beziehung

Tief im Bodnegger Grün, zwischen Kuhweiden und Wäldern, findet man, dank Navi, Andreas Deckers Backstube. Wo früher im alten Bauernhof das Milchfass stand, steht heute der Matador-Ofen mit 200 Laib Fassungsvermögen, umgeben von Backblechwagen und Gärkörbchen. Bäcker Andreas Decker startete 1984 mit etwas, das letztlich ganz anders kam. Denn „eigentlich hatte ich den Beruf an den Nagel gehängt und dachte an Gartenbau“. Er wollte lediglich ein wenig Brot für den Hofladen backen. Doch die immense Nachfrage ließ ihm keine andere Wahl, als die Backmengen Tag für Tag zu erhöhen. Und so wuchs eben doch eine Bäckerei heran.

Bio-Bäcker Andreas Decker an seinem Lieblingsplatz: vor dem noch warmen Backofen, dem Matador. © Don Ailinger

Bio hat Decker schon immer gebacken. „In mir reifte relativ früh ein Nachhaltigkeitsgedanke. Ich habe sehr viel über Landwirtschaft gelernt. Mich interessiert das ganze Feld: vom Boden über die Frucht bis in den Magen.“ Viele seiner Bekannten hielten sein Geschäftsmodell damals für kaum überlebensfähig. „Ich begann halt, als bio noch was für Exoten war.“ Selbst der Innungsobermeister prophezeite dem ideologischen Vollkornbäcker ein frühes Ende. Der Obermeister ist inzwischen weg, Decker ist noch da.

Bio-Bäcker Decker backt ab 19 Uhr, meist allein. Fertigmischungen? Nie. Vollkorn wird selbst vermahlen; Typenmehl kommt von der Mühle aus Bad Wurzach. Er schätzt die enge Partnerschaft auf Augenhöhe, die er mit seinem Lieferanten pflegt. Er kennt die Ackerschläge seines Getreides und weiß um die Auswirkungen von Anmoorboden oder Kieslage in Bezug auf Teigverhalten und Geschmack. Die Zeit arbeitet mit: Teigbereitung und Teigreife dominieren die ersten Stunden. Teigstücke werden mit der Hand abgewogen, neue Mitarbeitende lernen Fühlen statt viele Maschinen zu bedienen.

„Ich und mein Roggen-Sauerteig führen seit 40 Jahren eine gute Beziehung.“

Andreas Decker
Bäcker & Inhaber Bio-Bäcker Decker

Decker beliefert einige Naturkost- und Hofläden in Vogt, Wolfegg, Wangen und Bodnegg – wie auch den Bio-Landgasthof Adler. Außerdem hat er zwei eigene Filialen: in der Kirchstraße in Weingarten sowie der Herrenstraße in Ravensburg. Sein Team ist inzwischen kleiner, der Anspruch gleich. Die Nachfrage habe sich verändert, berichtet der Geschäftsführer. „Inzwischen backt sogar Aldi bio“, meint er, hebt einen Mundwinkel und zuckt mit der Schulter.

Decker-Brot ist eine Geschmacks-Konstante in einer Welt, die sich sehr schnell dreht. Ohne wechselnde Werte oder hippe Bio-Trends. Der Chef bäckt mit einer Art persönlichem Reinheitsgebot. Mit gleichbleibenden Rohstoffen und bewährten Rezepten. Wie er selbst sagt: „Trauen und tun. In der Routine liegt die Gelingsicherheit.“ Neben Brot ist die Vollkornpizza eine echte Decker-Ikone – seit 40 Jahren gleich, mit Leupolzer Käse und genau zwei Oliven. Warum zwei? Weil Klarheit ein Service ist – für Olivenliebhaber und -vermeider.

Wenn Arbeit zu Geschmack wird

Sterneküche, Patisserie, Bio-Landgasthof und Bio-Bäcker – vier Häuser, vier Milieus, vier Konzepte. Dennoch erkennen wir zahlreiche Parallelen. Die gemeinsame Währung unserer Back- und Kochhandwerker ist Zeit, Wissen, Transparenz, Detailverliebtheit und Verantwortung.

Die Währung der Kunden heißt Euro – und davon manchmal etwas mehr. Der Preis ist eine Übersetzung: von Arbeit in Geschmack, von Haltung in Alltag. Ob sich das lohnt, entscheidet jeder selbst. Genuss hat viele Formen – und er beginnt nicht erst im Sternerestaurant. Manchmal reicht schon gutes Brot und der entscheidende Moment, wenn die eigenen Geschmacksknospen Tango tanzen. Was „gut” ist, bleibt schließlich „Gschmacksach”, sagt der Schussentaler. Im Zweifel: Einfach probieren!

Making of „mein Schussental“ – Restaurant Kaisersaal © Don Ailinger
Making of „mein Schussental“ – Patisserie | Chocolaterie | Broterie Obermayer © Don Ailinger
Making of „mein Schussental“ – Der Bio-Adler: Hotel & Restaurant © Don Ailinger
Making of „mein Schussental“ – Bio-Bäcker Decker (Bodnegg) © Don Ailinger

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