Solidarische Landwirtschaft

„Früher Maisacker – heute Zukunft“

vom 14. Sep 2020
Autor: Stefan Blank
Fotos: Anja Köhler
© Anja Köhler
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Sonja Hummel und David Steyer haben ehrgeizige Pläne: Gemeinsam mit ihrem Verein „Solidarische Landwirtschaft Ravensburg e. V.“ wollen sie nicht nur die Landwirtschaft verändern, sondern auch die Welt zu einem besseren Ort machen – mit Gemüse, das nicht über den Markt vertrieben wird, sondern in einen eigenen Wirtschaftskreislauf einfließt, der von den Verbraucher*innen mitorganisiert und -finanziert wird.

„Alles, was man hier sieht, haben wir mit eigenen Händen aufgebaut“, sagt Sonja Hummel und schließt mit ihrer weit ausholenden Armbewegung zwei Hektar Fläche ein – direkt neben der L288 von Ravensburg Richtung Horgenzell. „Von Aubergine bis Zwiebel: Wir bauen alles an, was Sinn macht“, sagt Hummel. „Wir“, das ist das Team des Vereins „Solidarische Landwirtschaft Ravensburg e. V.“, kurz „Solawi“, eine alternative Form der regionalen Gemüseversorgung – und ein Konzept, das Gegenwart und Zukunft verändern soll.

„Momentan leisten wir hier die Grundversorgung mit Gemüse, unser Ziel ist die Vollversorgung.“ Um das zu erreichen, hat Hummel große Pläne. Dazu gehören: 6,5 Hektar Fläche, ein neues Gewächshaus mit Notheizung – bisher gibt es nur Kaltgewächshäuser –, Sozialräume und vor allem reichlich fruchtbaren Boden. Also muss für den Herbst 2020 eine Crowdfunding-Kampagne her. Dadurch wird das Konzept der Solidarischen Landwirtschaft weiter Fahrt aufnehmen, davon ist Hummel überzeugt.

Überzeugt sind sie alle: Sonja Hummel, im Vorstand des Vereins, David Steyer, Gemüsegärtner und Integrativer Garten- und Landschaftstherapeut, Lukas Balfanz, seines Zeichens Gemüsegärtner, einige Praktikant*innen sowie mehr als 270 Vereinsmitglieder, die die Solidarische Landwirtschaft auf dem Hof Hübscher finanzieren. Hummel, Steyer und Balfanz sind Anfang 30, haben viele Ideen, bezeichnen sich als überparteilich, aber auf jeden Fall stark kapitalismuskritisch, vielleicht als „neue Grüne“, wie Steyer sagt. Das, was sie tun, geht weit über das normale Gärtnern hinaus. Denn hier wird nicht nur solidarisch angebaut, sondern kameradschaftlich, auf freiwilliger Basis und im „Freiland-Fitnessstudio gebuddelt und gezupft“, wie es im Solawi-Sprech der Vereinsmitglieder heißt. Interessierte können lernen, Kräuter zu verarbeiten, es gibt Bildungsangebote für Erwachsene und Ferienprogramme für Kinder. „Aber wir sind keine Spaßveranstaltung, bei uns kommt Gemüse rüber“, sagt Hummel – und das auf solidarische Art und Weise.

Sonja Hummel 

Vorstand des Vereins Solidarische Landwirtschaft
Anfang 30, Leiterin des Mehrgenerationenhauses Gänsbühl in
Ravensburg, hat sich schon in ihrer Studienzeit mit der Solidarischen Landwirtschaft beschäftigt und blieb dabei – aus Überzeugung.
„Solidarische Landwirtschaft fördert und erhält eine bäuerliche und vielfältige Landwirtschaft, stellt regionale Lebensmittel zur Verfügung und ermöglicht Menschen einen neuen Erfahrungs- und Bildungsraum“, heißt es auf der Website des Netzwerks Solidarische Landwirtschaft e. V. mit Sitz in Kassel. Und: „Bei Solidarischer Landwirtschaft werden die Lebensmittel nicht mehr über den Markt vertrieben, sondern fließen in einen eigenen, durchschaubaren Wirtschaftskreislauf, der von den Verbraucher*innen mit organisiert und finanziert wird.“ Konkret: Das Gemüse von Solawi wird seit dem Gründungstag nach den Richtlinien des Bio-Anbauverbands Demeter angebaut, für 2021 ist die Zertifizierung geplant. So können Kunden sicher sein, dass Solawi mehr leistet, als die EU-Bio-Verordnung vorschreibt. Denn die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise von Demeter gilt als eine der nachhaltigsten Formen der Landwirtschaft. Dahinter steckt der Gedanke, dass jeder Hof zu einem Organismus ausgestaltet wird, der aus sich selbst heraus lebensfähig ist.
Bei Solawi Ravensburg wird dazu die Regionalität großgeschrieben: Die Jungpflanzen bezieht das Team vom Demeter-Hofgut Rengoldshausen bei Überlingen. Somit stammt das Gemüse von hier, findet also direkt den Weg vom Hof zum Teller, sieht hervorragend aus, schmeckt wunderbar und kommt knackfrisch vom Acker, aber frei kaufen kann man es nicht. Es sei denn, man ist Vereinsmitglied. 143 „Gemüseanteile“ verteilt Solawi aktuell an die Vereinsmitglieder, die sich diese Anteile in einer „Bieterrunde“ sichern.
Die Praktikantin Evita Hartkopf steht voll hinter dem Konzept, das den Mitgliedern knackfrisches Gemüse liefert. © Anja Köhler
Zu besprechen und zu tun gibt es immer etwas auf den bisher zwei Hektar Anbaufläche – bald sollen es 6,5 Hektar sein. © Anja Köhler
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143 Gemüseanteile werden unter den
mehr als 270 Vereinsmitgliedern verteilt.

Wer dabei sein und bestes Gemüse genießen will, findet Infos unter:
solawi-ravensburg.de

Dank der Bieterrunde läuft der Laden

Im Dezember jeden Jahres treffen sich die Vereinsmitglieder von Solawi zur Bieterrunde. Diese sorgt dafür, dass den Gärtner*innen eine Art Grundeinkommen für ein Jahr gewährt werden kann. Und das geht so: Die Gärtner*innen stellen – in Absprache mit den Mitgliedern – ihre Anbau- und Finanzplanung für das Folgejahr vor. Erfahrungsgemäß ist ein Gemüseanteil im Monat rund 60 Euro wert. Jedes Mitglied schreibt jetzt auf einen Zettel, wie viel er oder sie monatlich für den Anteil Gemüse aufbringen möchte. Anschließend wird errechnet, ob das Budget für die nächste Saison gedeckt ist. Die Runde wird so oft wiederholt, bis der gewünschte Betrag erreicht ist. Jetzt kann sich jedes Mitglied pro Lieferung über sieben bis zehn Sorten Gemüse und Kräuter freuen. Darunter Basilikum und Bohnenkraut, Knoblauch und Kohlrabi, Zucchini, Zuckermais und Auberginen.

Lukas Balfanz sieht mit Bart und schattenspendendem Hut so aus, wie sich ein Städter einen Gärtner vorstellt. Bei Solawi kann er sich verwirklichen und mit bloßen Händen und fruchtbarem Boden etwas Besonderes schaffen. © Anja Köhler

Veränderung der Gesellschaft

2014 ging Solawi Ravensburg an den Start, deutschlandweit findet man gut 200 weitere Solawis. Allein in Oberschwaben und am Bodensee gibt es sie beispielsweise in Bad Waldsee, Bergatreute, Salem, Sigmarszell, Tettnang, Konstanz und Wangen – weitere sind in Planung. Für David Steyer geht es um viel: Einerseits um die Zunft der Gärtner*innen, die besonders im konventionellen Anbau unter einer hohen Arbeitsbelastung und gleichzeitig reichlich Unsicherheit leiden. Denn „es ist ein rauer Beruf. Der Job ist hart. Es gibt ja keine Sicherheit, dass die Ernte gut wird oder der Verkauf am Stand auf dem Wochenmarkt genug einbringt”. Dank Solawi werden alle Gärtner*innen übertariflich bezahlt und können ihre Familie ernähren. Andererseits hat Steyer nicht weniger als die Veränderung der gesamten Gesellschaft und ihre Zukunft im Auge. Er spricht über ökologische Aspekte, Nachhaltigkeit, erzeugerbasierte Konzepte, Nachfrageorientierung und über den Unsinn, den großflächigen Anbau von Mais in der Region und seine anschließende Verbrennung in Biogasanlagen als erneuerbare Energie zu verkaufen. „Da wird schlicht Bodenraubbau begangen, und die Biobilanz von Mais ist horrend.” Da war es für ihn nur logisch, dem Zuckermaisacker des Hofs Hübscher, für den es keine Hofnachfolge gab, den Boden zu entziehen und dann Gemüse anzubauen. Ganz klar: „Früher Maisacker – heute Zukunft“, sagt er.

David Steyer 

Integrativer Garten- und Landschaftstherapeut
Anfang 30, ist als Betriebsleiter aus Überzeugung solidarisch, ein bisschen grün – vielleicht eher ein „neuer Grüner“ – und hat die gesamte Gesellschaft und ihre Zukunft im Auge.
Wahre Lokalhelden

Das Selbstbewusstsein lohnt sich: 2018 lobte die TWS Förderpreise für „wahre Lokalhelden“ aus. 38 Vereine, Gruppen und Organisationen bewarben sich um einen Förderbeitrag aus dem Sponsoringtopf der TWS, Solawi Ravensburg kam beim Publikumspreis unter die ersten zwölf. Dank und Anerkennung gab es von der TWS in Worten und Bargeld: 500 Euro Preisgeld. Diese wurden unverzüglich in eine zeltähnliche Plane investiert, die ein paar Bierbänke überspannt und damit einen trockenen Sozialraum möglich macht. Im Rahmen der Zukunftsplanung soll es neben einem neuen Gewächshaus auch einen Raum mit einem richtigen Dach geben, damit die angestrebten 6,5 Hektar Fläche im Sinne einer Vollversorgung professionell verwaltet und versorgt werden können. Von Sonja Hummel, David Steyer, Lukas Balfanz, Praktikant*innen sowie mehr als 270 Vereinsmitgliedern, Tendenz steigend, die sich jederzeit einbringen können, um mit eigenen Händen etwas aufzubauen.

Making of #meinschussental Solawi Ravensburg © Don Ailinger

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