Hier wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch Hölzer aus dem Altdorfer Wald bis zu den Gestaden des Bodensees geflößt, um dann in die Schweiz verkauft zu werden. In Ravensburg bot die Schussen ab 1845 getrennte Badeplätze für Männer, Frauen und Kinder inklusive Badehäuser. Um 1870 war das Schussental zwischen Mochenwangen und Weißenau die bedeutendste Industrieregion südlich von Ulm. Und erst mehr als hundert Jahre später, im Jahr 1987, wurde das letzte Wasserkraftwerk stillgelegt. Anschließend verlor sich der Fluss ungenutzt und trüb in seinem Bett, die Wasserqualität ließ zu wünschen übrig, Hochwasser erforderten in den frühen 1990er-Jahren regulierende Maßnahmen. Doch heute, in Zeiten des Klimawandels und der Suche nach Ideen für die Zukunft – da erhält die Schussen wieder mehr Aufmerksamkeit. Und das hat sie auch verdient.
Der Name Schussen kommt vom germanischen Skuta: Schießen.
Ein guter Gesprächspartner dafür ist Dr. Andreas Schwab aus Weingarten. Schwab ist Professor an der örtlichen Pädagogischen Hochschule und beschäftigt sich unter anderem mit regionaler Geologie.
Dr. Andreas Schwab
Wurde in Weingarten geboren, ging hier zur Schule und erkundet seit seiner Jugend die Natur und den Lebensraum im Schussental. Zu seinen Forschungsgebieten gehört unter anderem die Geologie Oberschwabens.
Mitte des 19. Jahrhunderts griff der Mensch durch den Bau der Eisenbahntrasse der Südbahn massiv in die zuvor weithin intakte Naturlandschaft ein. Die Ingenieure legten Feuchtgebiete trocken, beseitigten die Auenvegetation und verlegten und verkürzten den Flusslauf entscheidend. Dadurch erhöhte sich die Erosionskraft so sehr, dass die Schussen ein Felsental schuf mit einem Wasserfall. In diesen Wasserfall am Felsenbädle stürzten sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Mochenwangener Buben todesmutig hinunter. Sicher auch, um die Mochenwangener Mädle zu beeindrucken.
Das Gefälle der Schussen auf der Strecke von Aulendorf bis Mochenwangen beträgt 0,8 Prozent. Und damit lässt sich einiges machen, dachten die Konstrukteure der Papierfabrik Mochenwangen, die 1868 den Betrieb aufnahm. Um die stromerzeugende Turbine anzutreiben, hoben die Arbeiter einen 1.290 Meter langen Werkskanal aus, parallel zur Schussen. Schwabs Fazit: „Die Geschichte der Tallandschaft ‚Schussentobel‘ ist eine spannende Geschichte von natürlichen Entwicklungsabläufen und massiven menschlichen Eingriffen, deren Folgen uns beispielsweise im Rahmen der Industrialisierung des Schussentals bis heute begleiten.” Die Schussen entspringt ihrem Quelltopf bei Bad Schussenried und fließt strikt in südlicher Richtung. Bei Mochenwangen tritt sie in das Schussenbecken ein, passiert Weingarten und Ravensburg, Meckenbeuren und Kehlen, um bei Eriskirch im dortigen Ried nach gut 59 Kilometern in den Bodensee zu münden.
Der Ravensburger Heimat- und Mundartdichter Manfred Hepperle (1931–2012) bringt das Wesen der Schussen in trefflichen Zeilen auf den Punkt: „Aus der kleinen aber klaren/allem Anschein unscheinbaren,/Schussen, wird schon wenig später,/so nach zehn, zwölf Kilometer,/zwar kein Strom – doch ganz am Schluß,/doch ein Mittelklasse-Fluß.“ Ein Mittelklassefluss allerdings, der es geschichtlich in sich hat: 1145 stiftete Gebizo de Ravenspurc dem Abt des damals bedeutenden Prämonstratenserklosters Rot an der Rot seine Ländereien im Schussental. Ab 1152 rodeten und entwässerten die Mönche das Feuchtgebiet und legten damit den Grundstein für das rasch wachsende Kloster in Weißenau. Um die Getreidemühle anzutreiben, wurde um 1230 ein Kanal vom Fluss bis zum Klostergelände gebaut. 1251 kam ein Stauwehr hinzu. Aber jetzt überschwemmte die Schussen häufig das Ravensburger Stadtgebiet, auch der Grundwasserspiegel stieg an. Also stritt die stolze Reichsstadt regelmäßig mit dem Kloster. Zur Klärung wurde schließlich Kaiser Ludwig hinzugezogen. 1332 legte er fest, dass alles so seine Ordnung hätte. Das Weißenauer Stauwehr, oder vielmehr sein Nachfolger, wurde übrigens erst 1954 gesprengt – nach gut 700 Jahren umkämpfter Nutzung.
50 Pferdestärken hatte jede der beiden 1857 vom Stammwerk in Zürich gelieferten Jonvalturbinen der Maschinenfabrik Escher, Wyss & Cie. Sie lieferten Energie für die Werkstatt.
Im Februar 1824 erließen die Ravensburger Stadtobersten eine Flussbau-Ordnung. Der Flusslauf wurde korrigiert und in ordentliche Bahnen gelenkt. Damit, und mit dem Bau der Eisenbahn, ging auch die Flößerei 1847 endgültig zu Ende. Jetzt wurde die Schussen vordringlich als Energiequelle genutzt: 1856 hatte sich die Züricher Maschinenfabrik Escher, Wyss & Cie angesiedelt, 1857 erhielt sie zur Werkstatt einen eigenen Kanal. Zwei Kilometer war er lang, seine Sohle acht Meter breit und die Fallhöhe des Kanalwassers betrug gut drei Meter. Zwei Turbinen mit jeweils 50 PS lieferten jetzt Strom für den Escher. Und das brachte reichlich Energie ins Schussental: „Zählt man die zwischen 1865 und 1870 in Weingarten entstandenen Industriebetriebe (…) und die beiden Papierfabriken in Mochenwangen (1868) und Baienfurt (1871) hinzu, dann war um 1870 das Schussental zwischen Mochenwangen und Weißenau die weitaus bedeutendste, um nicht zu sagen einzige Industrieregion südlich von Ulm“, schreibt der Historiker Peter Eitel – nicht ohne Stolz. Doch die Schattenseiten der Industrialisierung sollten sich bald zeigen. Die Städte wuchsen, mehr Abwässer kamen über die Zuflüsse in die Schussen, Papierfabriken und andere Betriebe trugen ihren Teil zur Verschmutzung bei. 1931 musste der Badebetrieb eingestellt werden, dafür diente jetzt das Flappachbad. 1987 schließlich legte das Haus Sulzer-Escher Wyss sein Wasserkraftwerk still. Nach einem Hochwasser 1991 bestimmte das Landratsamt 74 Hektar Wiesengelände zwischen Gutenfurt und Weißenau sowie 22 Hektar bei Berg zum Hochwasser-Rückhaltegebiet. Und hier entstand etwas, was Ulfried Miller als „Wunderland am Schussenstrand“ bezeichnet.
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Ulfried Miller
Ökologe und Schussenkenner
Der Diplom-Agrarbiologe mit Schwerpunkt Landschaftsökologie, Waldbau und Tropenlandwirtschaft ist seit 1984 Leiter des BUND-Naturschutzzentrums Ravensburg.
Ulfried Miller ist Diplom-Agrarbiologe und seit 1984 Leiter des Ravensburger BUND-Naturschutzzentrums. „Die Schussen ist besser als ihr Ruf“, sagt der Autor der Broschüre „Wunderland am Schussen-strand“ bei einem Spaziergang am Ravensburger Schussenufer, südlich der Mühlbruck. Denn hier finde man alles, was die Schussen „begehbar und erlebbar“ mache. Was seiner persönlichen Vision entspricht, mehr Grün in die Stadt zu bringen. „Früher waren hier bloße Äcker zwischen der Bundesstraße und der Schussen. Aber es ist gelungen, Naturschutz, Lärmschutz und das Erleben der Natur zusammenzubringen.“ So wächst hier beispielsweise das Rohrglanzgras-Röhricht. Mit seinem dichten Wurzelgeflecht festigt es den Boden am Rand der Schussen und trägt damit zur Ufersicherung bei. Auch halten die Röhrichtpflanzen die Bakterien fest, die im Wasser unterwegs sind – als eine Art Kläranlage. Im Fluss selbst gibt es Wasserskorpione, Steinfliegen und Bachflohkrebse. Diese wiederum bilden die Hauptnahrung für die Fische der Schussen, von denen es mehr als 20 Arten gibt. Drei davon stehen laut der Fauna-Flora-Habitatrichtlinie (FFH) unter Artenschutz. Geschützt wird auch der Biber, der die Schussen wieder für sich entdeckt hat und zu nächtlicher Stunde sehr aktiv ist. Ulfried Miller ist hier gerne mit Kindern und Schulklassen unterwegs. Ihnen kann er live und in Farbe vermitteln, was der Lebensraum Schussen so alles drauf hat. Dabei gibt er ihnen und allen Interessierten einen Wunsch mit auf den Weg: „Die Schussen kann so viele Geschichten erzählen, über Wasserkraft, Ernährung und die Zukunft. Hier sollte es uns gelingen, Menschen und Natur weiter zusammenzubringen – was ein Gewinn für alle wäre.“