Wie Integration mit Engagement und Hartnäckigkeit gelingen kann

Ayaan macht die besten Kässpätzle

vom 12. Jul 2022
Autor: Stefan Blank
Fotos: Don Ailinger
Aayan bei der Arbeit
© Don Ailinger
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Geschichten von Menschen auf der Flucht begegnen uns heute täglich. Da sind die Frauen aus der Ukraine mit ihren Schicksalen und die jungen Männer aus Afrika, mit deren Lage wir uns 2015 auseinandergesetzt haben. Zumindest die Aufnahme der Letztgenannten haben wir geschafft. Weniger ins Licht der Öffentlichkeit gelangt die Situation von Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung. Sie sprechen bei der Ankunft kein Deutsch, kommen mit den unterschiedlichsten Hintergründen und müssen quasi über Nacht in das Bildungssystem aufgenommen werden – ohne die Hilfe ihrer Eltern, der Familie oder von Freunden. Diesen jungen Menschen begegnen wir auch im Schussental. Wer ihnen zuhört, erfährt, wie mit Engagement und Hartnäckigkeit Integration gelingt. Hier sind die Geschichten von Ayaan und Mohammad, die gemeinsam mit Ulrike Beuther und Markus Fritsche von den Zieglerschen das Leben in Deutschland kennenlernten und heute angekommen sind.

Die Landeszentrale für politische Bildung liefert für 2021 grundlegende Zahlen: „Von den Geflüchteten, die Baden-Württemberg erreichen, sind knapp 30 Prozent unter 18 Jahre und 56 Prozent unter 25 Jahre. Insgesamt beträgt das Durchschnittsalter aller Geflüchteten 23 Jahre und liegt damit ca. 20 Jahre unter dem Durchschnittsalter der baden-württembergischen Gesamtbevölkerung.“ Deutschlandweit stellten allein 2015 bis 2017 fast eine halbe Million Minderjähriger mit Fluchthintergrund einen Asylantrag.

Ayaan
Ayaan flüchtete aus Somalia nach Deutschland. Über das afrikanische Land schreibt das Ravensburger Munzinger Archiv: „Die Menschenrechtslage ist infolge des langen Krieges katastrophal (u. a. Exekutionen ohne Gerichtsverfahren, häufige Angriffe gegen Leib und Leben, unzureichender Schutz für die Zivilbevölkerung; Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen).“ Ayaan floh mit 14, denn sie sollte zwangsverheiratet werden. „Kinderehen sind der Anfang eines Teufelskreises aus Benachteiligungen, der Mädchen die grundlegenden Rechte auf Bildung, Entwicklung und Kindsein verwehrt”, heißt es auf der Website der Kinderrechtsorganisation „Save the Children“. Laut Vereinten Nationen leben derzeit weltweit rund 700 Millionen Frauen und Mädchen in Ehen, die sie vor ihrem 18. Lebensjahr eingehen mussten. Denn oft sehen sich arme Familien gezwungen, ihre Töchter möglichst früh zu verheiraten, damit sie versorgt sind.

Doch Ayaan wollte nicht versorgt werden. Sie und ihre Cousine flüchteten quer durch Afrika und erreichten eineinhalb Jahre später Deutschland. Ayaan kam für rund 2,5 Jahre in einer Pflegefamilie in Ravensburg unter, wollte aber so früh wie möglich selbstständig leben. Doch zuerst und unter der Obhut des Jugendamts ging es darum, sie zu „beschulen“, um später in die „Verselbstständigung“ einsteigen zu können. Was wie Amtsdeutsch klingt, hat konkrete Hintergründe. Denn Bildung ist das Wichtigste für junge Menschen und nur über ein selbstständiges Leben ist aktive Teilhabe am Alltag möglich. Hier kam die Jugendhilfe der Zieglerschen ins Boot. Sie sitzt in Berg bei Ravensburg und bietet mit dem Martinshaus rund 160 jungen Menschen umfassende Bildungs- und Betreuungsangebote – ganz nach den gesetzlichen Vorgaben des SGB VIII (Sozialgesetzbuch), §1: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“

„Eine kleine Wohnung habe ich mir gewünscht, heute habe ich sie.“ 

Ayaan
zukünftige Fachkraft fürs Gastgewerbe
Fördern und entwickeln, das war im Fall von Ayaan die Aufgabe von Ulrike Beuther. Sie lernte Ayaan im Februar 2019 kennen, als sie ins Betreute Jugendwohnen des Martinshauses einzog. Beuther arbeitet als Heilpädagogin und sagt: „Die jungen Menschen, die zu uns kommen, die haben richtig Glück.“ Denn alle gesetzlichen Maßnahmen seien nur hilfreich, „wenn man jemanden an seiner Seite hat.“ Also wich sie Ayaan in den folgenden Jahren nicht von derselben. Da mussten Anträge gestellt, Ämter besucht und Gerichtstermine eingehalten werden. Die Bürokratie galt es zu beherrschen, genauso wie Arztbesuche, die Jugendhilfemaßnahmen ständig zu überprüfen und sich natürlich mit Ayaan und ihrer Lebenssituation zu beschäftigen – auf Augenhöhe. „Dabei gehen wir davon aus, dass die Jugendlichen auch den Willen dazu haben, wir zwingen niemanden.“ Hilfe zur Selbsthilfe ist das Motto, individuelle Maßnahmen und Vertrauen die Lösung. „Integration dauert Jahre, vielleicht Jahrzehnte. Aber mit Engagement und Hartnäckigkeit gelingt sie. Das treibt mich an.“ Ayaan lernte Deutsch. „Heute kann ich beim Übersetzen helfen.“ Sie machte ihren Hauptschulabschluss und Praktika. „Denn ich will nicht Zuhause rumsitzen.“ Sie hat jetzt eine eigene Wohnung und verfolgt gerade das große Ziel, ihre Ausbildung als Fachkraft fürs Gastgewerbe abzuschließen.
Ayaan Nur und Ulrike Beuther kennen sich seit Februar 2019 – und haben seitdem einiges miteinander erreicht. © Don Ailinger
Auch hier stieß sie mit Beuthers Beistand beim Berufsbildungswerk Adolf Aich (BBW) und der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Ravensburg auf offene Ohren: Ihre Lehrzeit konnte auf drei Jahre verlängert werden, sodass die deutsche Sprache am Ende noch besser flutscht und vor allem, „damit junge Frauen wie Ayaan eine reale Chance auf einen Abschluss bekommen“, wie Claudia Bissinger vom IHK-Geschäftsfeld Ausbildung sagt.

„Bei uns geht es nicht um Erziehung, sondern um Betreuung und Begleitung der Jugendlichen.“ 

Ulrike Beuther
Heilpädagogin im Martinshaus
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Ayaans Abschlussprüfung sollte kein Problem sein, davon ist Marlene Haag überzeugt. Marlene treibt mit Mutter Ewa und reichlich Frauenpower seit 13 Jahren das Restaurant Schützenhaus in Weißenau um. Ob die dunkle Hautfarbe ihrer Mitarbeiterin ein Thema sei? Kein Problem, auch bei den Besucher*innen ihres Restaurants nicht. „Sie versteht sich prima mit den Gästen und kann mittlerweile alles, vom Service übers Buffet bis zur Bewirtung der Terrasse.“ Und überhaupt koche Ayaan die besten Kässpätzle weit und breit, „die müssen Sie mal probieren“. Ob Ayaan nach Abschluss der Ausbildung bleiben könne? Natürlich, denn „Ayaan gehört längst zur Familie“.
Auch mit der Schützenhaus-Wirtin Marlene Haag verbindet Ayaan ein mehr als freundschaftliches Verhältnis. © Don Ailinger

Als Fachkraft fürs Gastgewerbe hat Ayaan Nur Zukunft. „Wir haben kein Problem mit Migrant*innen – wir haben ein Problem ohne Migrant*innen“, sagt Max Haller. Er ist Kreisvorsitzender des Hotel- und Gaststättenverbands DEHOGA Baden-Württemberg und freut sich über jeden Neuzugang in seiner vom Nachwuchsmangel geplagten Branche: „Als Gastronomie sind wir eine weltoffene Branche. Wir unterstützen und helfen so gut wir können und beschäftigen Menschen aus aller Herren Länder.“ Eines dieser Länder ist Afghanistan.

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    Mohammad
    In den Kammerbezirken der IHK Bodensee-Oberschwaben sind 136 Geflüchtete in einer Ausbildung (Stand: Dezember 2021). Zu den 27 aus Afghanistan gehört Mohammad. Ein Blick ins Munzinger Archiv zeigt: „Afghanistan ist als Binnenland einer der ärmsten und am wenigsten entwickelten Staaten der Welt (…).“ Mohammad sah hier für sich keine Zukunft und machte sich – 15 Jahre jung – auf den Weg nach Europa. Schweden war sein Ziel, doch er landete wegen einer falsch gewählten Zugverbindung in Ravensburg. Die erste Zeit in Deutschland verbrachte er in Wilhelmsdorf in einem Kinderheim, ab März 2017 im Martinshaus. Heute hat er eine eigene Wohnung, wird nicht nur von seinen Kumpels „Moh“ genannt und bringt Wärme und Wasser in die Haushalte der Region. Demnächst schließt er seine Ausbildung als Anlagenmechaniker Fachrichtung Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik bei Finn Wolters in Brochenzell ab und hat das nächste Ziel schon im Auge: den Meister zu machen.

    „Ich bin einer der wenigen Afghanen, die Schwäbisch können.“ 

    Mohammad
    zukünftiger Anlagenmechaniker
    Fachrichtung Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik

    Mohs Aufnahme und sein Werdegang in Deutschland sind eine Erfolgsgeschichte. Doch dahinter steckt harte Arbeit. Arbeit, die Markus Fritsche auch nach 40 Jahren im Job immer noch gerne macht. Fritsche ist eine besondere Type: gut 1,90 Meter groß, langhaarig, ehemaliger Leistungssportler, leidenschaftlicher Radler und Sozialarbeiter aus Überzeugung. In seinem Büro grüßt der Revolutionär Che Guevara in Plakatgröße von der Wand und in seiner spärlichen Freizeit schreibt Fritsche Bücher und dichtet. Seit 2011 kümmert er sich in den Flexiblen Hilfen der Zieglerschen um geflüchtete Jugendliche und fasst in wenigen Worten zusammen, wie für ihn Erfolgsgeschichten ausgehen sollten: „Lohn, Brot, Wohnung und eine Zukunft. Das ist das, was wir erreichen sollten.“ Aus welchem Land die zu Betreuenden kommen, das spielt für ihn keine Rolle. „Klar ist, dass bei Geflüchteten der Schwerpunkt der Arbeit ganz woanders liegt, als bei ‚normalen‘ deutschen Jugendlichen.“ Denn Geflüchtete interessieren sich normalerweise nicht für Alkohol und Drogen, sind hochmotiviert bei ihrer Ankunft in Deutschland, sie sind selbstständig, können mit Geld umgehen und sind meist per Smartphone mit ihrer Welt gut vernetzt. „Also müssen wir sie gut auf den Kulturschock vorbereiten, denn in Deutschland sind die Versuchungen groß.“
    Mohammad Hussaini und Markus Fritsche: Ein ungleiches Paar, das sich auf Anhieb gut verstanden hat. © Don Ailinger

    Fritsche und das vierköpfige Team der Flexiblen Hilfen begleiten die Geflüchteten vom Ankommen bis zum Schulabschluss und in die Ausbildung. Aber sie sind auch da, wenn es um Heimweh geht und um Vereinsamung, wenn die Gesundheit leidet – körperlich und seelisch. „Jeder geflüchtete Mensch ist komplett individuell, damit muss und will ich umgehen“, sagt Fritsche, „und wenn ich helfen kann, dann mache ich das.“ 

    „Weder die Religion noch die Hautfarbe spielen für uns eine Rolle.“ 

    Markus Fritsche
    Sozialarbeiter aus Überzeugung
    Mohammad Husseini hat diese Hilfe angenommen und noch viel vor, denn „ich gebe immer Gas. Ein paar Treppenstufen habe ich geschafft, ein paar gibt es noch.“ Geschafft hat er die deutsche Sprache. „Ich bin einer der wenigen Afghanen, die Schwäbisch können.“ Geschafft hat er den Realschulabschluss. Seit 1. Mai 2022 lebt er in den eigenen vier Wänden und demnächst schließt er seine Ausbildung ab. „Mein Job ist mein Leben“, sagt er. Sein Kapo Finn Wolters weiß das längst. „Moh macht sehr gute Arbeit, er ist freundlich und pünktlich, bringt gute Noten und ist nur dann unzufrieden, wenn er nichts zu tun hat.“ Natürlich könne Moh nach der Ausbildung bleiben, keine Frage.
    Meister Finn Wolters ist mehr als zufrieden mit Mohammads Arbeit auf der Baustelle, denn der leistet sehr gute Arbeit. © Don Ailinger
    Für Betreuer Markus Fritsche ist Mohammad Husseini eine Erfolgsgeschichte, aber natürlich nicht die einzige. „Ich denke, dass wir in 70 bis 80 Prozent aller Fälle bei geflüchteten Jugendlichen erfolgreich sind. Und das sorgt dafür, dass bei mir heute auch nach 40 Jahren Jugendhilfe das Feuer noch brennt.“

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