Die Stadt der Zukunft – Ideen für das Schussental

Beispielhaftes Bauen für alle

vom 11. Mai 2023
Autor: Stefan Blank
Fotos: Don Ailinger
© Kilian Bendel
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Die Stadt der Zukunft wird mit der Stadt von heute nicht mehr vergleichbar sein. Das gilt für Megacitys wie Tokio und Los Angeles, Metropolen wie Berlin oder München sowie für das Schussental und Ravensburg als sogenannte Mittelstadt. Denn der Klimawandel sorgt dafür, dass selbst in Gegenden, die heute wenig betroffen sind, vermehrt extreme Wetterphänomene auftreten werden.

 

Gleichzeitig wird der Mensch auch in Zukunft durchschnittlich 90 Prozent seiner Lebenszeit in geschlossenen Räumen verbringen. Dabei steigen die Anforderungen an Komfort und Behaglichkeit von Gebäuden und Siedlungsstrukturen. Die städtische Bevölkerung altert wie die Gesellschaft allgemein und zugleich schwinden die Ressourcen. Für die Stadt von morgen bedeutet das, dass bei Planung, Bau und Betrieb zahlreiche wirtschaftliche, ökologische und soziale Kriterien berücksichtigt werden müssen. Dabei geht es um ein Zusammenspiel von Architektur, Bautechnik, technischer Gebäudeausrüstung, Stadtplanung und neuen Konzepten des Zusammenlebens. Wir haben uns umgeschaut und mit Architekten, Ingenieuren, Praktikern und Visionären gesprochen – auf der Suche nach Ideen für das Schussental der Zukunft.

In Ravensburg entsteht auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks mit dem Erweiterungsbau der Technischen Werke Schussental (TWS) ein weithin sichtbares Bauprojekt. Dieses zeigt, wie nachhaltiges Bauen und Arbeiten miteinander vereint werden – als funktionales, barrierefreies, zukunftsorientiertes und vor allem ressourcenschonendes Bürogebäude. Im Gebäude plant die TWS hochflexible und moderne Arbeitsplätze, ausreichend Raum für die neue Leitstelle sowie das Rechenzentrum.

Der Neubau wurde bei der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) zur Goldzertifizierung angemeldet. Das bedeute viel Arbeit, wie Architekt Josef Prinz aus Ravensburg erklärt: „Wer den Gold-Standard der DGNB erfüllen möchte, muss zahlreiche Überlegungen anstellen und dementsprechend investieren. Neben der ökologischen und ökonomischen Qualität gilt es, soziokulturelle Gesichtspunkte sowie die Prozess- und Standortqualitäten zu bewerten.“ Dazu gehören beispielsweise Lärmdämmung und Nachhaltigkeit der Baustelle oder die Beheizung und energetische Versorgung des Gebäudes. Ein spannender Aspekt bei der Planung war es herauszufinden, mit welchen Materialien dieses Ziel erreicht werden kann. Denn nicht nur nachwachsende Rohstoffe wie Holz, sondern auch andere Baustoffe mit hohem Recyclinganteil dürfen laut DGNB für den Bau verwendet werden.

Josef Prinz ist der Architekt des neuen TWS-Gebäudes. Er hat sich schon bei der Planung viele Gedanken über die Zukunft des Bauens gemacht.

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André Schute hat mit seinen Kolleg*innen genau geplant, wie an dieser Stelle Nachhaltigkeit zum Erleben und Anfassen entsteht.

Beim Neubau wird also – soweit möglich – mit Recyclingbeton gebaut und ab dem ersten Stockwerk in Hybridbauweise aus Holz und Beton. „Holz ist CO₂-neutral und ein atmender Baustoff“, erklärt André Schute, verantwortlich für das Gebäudemanagement bei der TWS. „Damit wird das Klima im Gebäude besser, die Luftqualität steigt, weniger Schadstoffe werden eingebracht.“ Gleichzeitig wirke Holz in Sachen Dämmung deutlich besser als Beton, was der Energieeffizienz zugutekomme. „Nicht zu vergessen, dass das Haus komplett recycelt werden kann. Denn die Baustoffe sind nicht durchmischt und damit gut trennbar.“ Überhaupt werde „gemacht, was geht“. Dazu gehört beispielsweise neben der PV-Anlage auf dem Dach eine fassadenintegrierte Photovoltaik. „Wirtschaftlich rechnet sich das kaum. Aber die Solarelemente übernehmen Funktionen der Fassadenbauteile und damit sparen wir wiederum Ressourcen für die Herstellung konventioneller Baumaterialien ein.“

Geheizt wird mit regenerativen Energien. Gleichzeitig wird die Kühlung der EDV nicht wie üblich mit Kältemitteln auf chemischer Basis geleistet – mit teilweise horrender Ozonbilanz –, sondern mit Propangas. „Da nutzen wir neueste Technologie mit grünem Label.“

Im Frühjahr 2023 werden in der Georgstraße „die Wände hochgehen“ und im Spätherbst 2024 wird das nachhaltige Gebäude fertig sein – Goldzertifizierung der DGNB inklusive und damit beispielhaft.

„Nicht zu vergessen, dass das Haus komplett recycelt werden kann. Denn die Baustoffe sind nicht durchmischt und damit gut trennbar.“

André Schute
Projektleiter Gebäudemanagement, TWS

Aufstockung, Nachverdichtung und Begrünung: Konzepte für die Zukunft

Wenn es um „Beispielhaftes Bauen“ geht, dann sollte man auch mit dem Bau- und Sparverein Ravensburg eG sprechen. „Wir sind letztes Jahr mit unserem Neubauprojekt in der Haasstraße in Weingarten für Beispielhaftes Bauen vom Landkreis und der Architektenkammer ausgezeichnet worden“, sagt Lothar Reger. Gemeinsam mit Jörg Seiffert leitet der Bauingenieur als Vorstand die Genossenschaft. „85 Prozent haben wir in Holzbauweise erstellt und gleichzeitig 800 Bäume nach dem Motto ‚Plant-for-the-Planet‘ gepflanzt.“ Es wird also grün geplant und gebaut.

Nullenergiehäuser in KFW 40 Standard, Erdwärme als Energiequelle für Heizung und Brauchwasserbereitung, Photovoltaik als Mieterstrommodell, Sanieren im Bestand, mit all dem kennt sich Reger aus. Denn der Bau- und Sparverein bewirtschaftet in der Region 1060 Wohnungen im Eigenbestand. Regelmäßig werden diese saniert, je nach Istzustand als Teil- oder Vollsanierungen. Allein 2022 gab die Genossenschaft dafür 1,43 Millionen Euro aus. Ziel ist es, bei einer Vollsanierung so zu modernisieren, dass die kommenden 30 Jahre kein großer Aufwand mehr anfällt. „Wir versuchen bei diesen Maßnahmen auch immer, neuen zusätzlichen Wohnraum durch Aufstockungen zu schaffen. Denn Aufstockung und Nachverdichtung wird die Zukunft sein.“

Der Bau- und Sparverein Ravensburg ist hier voll im Trend. Denn die Baubranche gilt als Klimakiller und größter Abfallproduzent in Deutschland. Der Abriss eines bestehenden Gebäudes ist für viele Architekt*innen nach dem Motto „Umbauten statt Neubauten“ reine Verschwendung.

„Wir müssen schlicht Rohstoffe sparen und weniger Flächen versiegeln.“

Lothar Reger
Vorstand, Bau- und Spar-verein Ravensburg eG

Denn besser wäre es, über flexiblere Nutzbarkeit nachzudenken und den Bestand als Ressource zu verstehen. „Wir müssen schlicht Rohstoffe sparen und weniger Flächen versiegeln“, sagt Reger. Aktuell plant die Genossenschaft Aufstockungen in der Blumenau in Weingarten mit 22 Wohnungen. „Ohne einen Quadratmeter Boden zusätzlich zu versiegeln.“

Vorstand Reger weist auf einen anderen Bereich des Bauens und Lebens hin: das Miteinander der Menschen, das Gemeinwohl. „Jung und Alt, materiell abgesichert oder auf Unterstützung angewiesen, kulturell unterschiedlicher Herkunft, alle diese Menschen wohnen gemeinsam in unseren Wohnanlagen.“ Der Bau- und Sparverein Ravensburg leistet sich neben bezahlbarem Wohnraum ein strukturiertes „Soziales Management“, in dem zwei Sozialpädagoginnen Mieter*innen und Mitglieder unterstützen und die Gemeinschaft in den Häusern sowie die Nachbarschaft im Quartier stärken. „Genossenschaften sind der Kitt, der Zusammenhalt für die Gesellschaft“, so Reger.

Gemeinwohl und Klimawandel kommen in einem anderen Ravensburger Konzept zusammen, dem Sanierungsgebiet „Grüne Weststadt“. Die Weststadt entstand in den 1950er-Jahren als Neubaugebietserweiterung. Heute ist sie mit knapp 10.000 Einwohner*innen der größte Stadtteil. Die Sanierungsziele heißen: „Städtebauliche Erneuerung und Transformation einer ‚Nachkriegsstadt‘ mit der Zielsetzung der energetischen Verbesserung der Gebäudesubstanz als Beitrag zur CO₂-Reduzierung und zum Klimaschutz als klimaneutraler Stadtteil.“ Und: „Ökologische Aufwertung ‚Rahlenpark‘ als naturnahen Landschaftsraum mit vorhandenen Wasserelementen, Vernetzung der Biotope, des Streuobstbestandes und des Waldsaums.“ Auch notwendige Sanierungen tragen also dazu bei, Ravensburg klimafit zu machen.

Lothar Reger ist Vorstand des Bau- und Sparvereins Ravensburg. Ihm geht es vor allem um Lösungen, die zum Gemeinwohl passen. Dazu gehören ein individuell gefertigter Aufzug in der Ravensburger Galgenhalde und beispielhaftes Bauen in der Weingartner Haasstraße.

Der Veränderungsmacher

Die Stadt der Zukunft könnte also hochgradig energieeffizient sein, ressourcenschonend erbaut oder saniert, klimafit, verdichtet, grün und sozial. Ein Visionär, der sich seit Jahren über das Thema Gedanken macht, ist Gerald Babel-Sutter. Er ist CEO und Mitbegründer der Urban Future Conference. Die Konferenz und Expo ist die führende europäische Veranstaltung für nachhaltige Stadtentwicklung. Kernthemen sind vor allem Mobilität, Wohnen, Energie und Kommunikation. In diesem Jahr findet sie zum ersten Mal in Deutschland statt, und zwar vom 21. bis 23. Juni 2023 in Stuttgart. Wir fragten ihn nach seinen Erfahrungen und Vorstellungen einer nachhaltigeren Lebensweise.

Gerald Babel-Sutter – CEO & Mitbegründer von Urban Future Conference
Nachhaltige Städte sind  unser  Thema

Gerald Babel-Sutter im Interview

Herr Babel-Sutter, Ihr Thema sind nachhaltige Städte. Das klingt visionär, bedarf aber sicher konkreter Maßnahmen. Womit würden Sie anfangen?
Babel-Sutter: Mit Veränderungen, die Menschen positiv wahrnehmen. Dazu zählen zum Beispiel mehr Grün und weniger Verkehr in Innenstädten. Auch ein öffentlicher Nahverkehr, der sehr komfortabel und flexibel ist, wird gut angenommen. Die Region macht mit ihrem Mobilitätskonzept da schon vieles sehr gut.

Welche nachhaltige Stadt ist für Sie momentan das Maß aller Dinge und warum?
Babel-Sutter: Städte in skandinavischen Ländern wie Dänemark, Norwegen, Schweden oder auch Holland sind uns in puncto Flexibilität und Transformation weit voraus. Oslo ist ein starkes Beispiel. Die Stadt überzeugt durch ihren Radverkehr, nachhaltigen Transport, ihre zahlreichen Grünflächen, die gute Luft und eine hohe Energieeffizienz.

Schon 2012 auf der Architekturbiennale in Venedig war das Thema im Deutschen Pavillon „Reduce/Reuse/Recycle“ für die Arbeit im Gebäudebestand der Städte. Was hat sich in der Richtung bis heute getan?
Babel-Sutter: In der Breite leider nicht genug. Menschen sind träge, wenn kein großer äußerlicher Druck da ist. Jedoch haben die Lockdowns während der Coronapandemie dazu beigetragen, dass Menschen ihren Stadtraum völlig anders wahrgenommen und erlebt haben: Sie waren mehr draußen in den Parks, es war leiser, weniger hektisch, kaum Autolärm und der kleine Händler um die Ecke war plötzlich Gold wert. Da hat sich die Präferenz von einigen verändert. Und die Energiekrise hat der Wärmewende bei Bestandsbauten auch einen Schub gegeben. Sie hat auch gezeigt, dass wir gut mit weniger Energie klarkommen. Hier kann ich nur wünschen, dass dieser Trend nachhaltig ist und auch auf Einsicht beruht.

Sie sagen, Städte müssen nachhaltiger werden, um unsere Umweltprobleme zu lösen. Gemeinsam müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den städtischen Wandel zu beschleunigen. Was kann jede und jeder Einzelne auch weit entfernt von Metropolen der Welt dazu beitragen?
Babel-Sutter: Sorgsamer und bewusster mit allen Ressourcen umgehen, ob Trinkwasser, Energie, Nahrungsmittel, einfach mit allem. Das Gemeinwohl muss eine zentralere Rolle im Selbstverständnis eines jeden Menschen einnehmen, wenn wir die großen Herausforderungen meistern wollen. Und hierzu kann jeder beitragen, einen Weg zu finden, auf dem das „Wir“ über dem „Ich“ steht. Es geht schließlich darum, dass es uns allen gut geht.

Im großen Ganzen geht es bei Ihrem Thema um Veränderung. Menschen aber ändern sich und ihr Umfeld nur ungern. Wie nimmt man die Menschen aus Ihrer Erfahrung heraus am besten mit?
Babel-Sutter: Man muss Menschen erleben lassen, dass sich Veränderungen positiv auf ihr Lebensumfeld auswirken und einfach mal machen. Und man muss sie an der Gestaltung der Zukunft mitmachen lassen. Das motiviert. Utrecht zum Beispiel hat seine Bürgerschaft aufgerufen, Vorschläge für die Dekarbonisierung der Stadt zu machen. 3.000 Ideen sind eingegangen, die Stadt hat alle umgesetzt. Das war ein starkes Zeichen für die Relevanz der Bürgerschaft und für die Demokratie. Und ganz ehrlich: Allein hätte eine Stadtverwaltung so einen großen Strauß an Lösungen nie zusammenbekommen.

Making of #meinschussental „Die Stadt der Zukunft“ © Don Ailinger

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