Wie die Erfindung und Vervielfältigung des Papiers unser Leben verändert hat

Von Lumpensammlern und Klickstrecken

vom 19. Nov 2024
Autor: Stefan Blank
Fotos: Don Ailinger, Stefan Blank
© Don Ailinger
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Wir tippen Kurznachrichten auf Smartphones, schreiben Einkaufslisten auf Tablets, halten Kreatives auf digitalen Whiteboards fest und füllen Onlineformulare zum Stromverbrauch aus. Alles Dinge, die wir in früheren Zeiten auf Papier festgehalten haben. Wir lesen E-Paper und laden uns aus der Onleihe Bücher herunter. Aber gelegentlich begegnet uns ein Blatt Papier. Beschriftet oder weiß, zum Anfassen, Lesen, Lochen und Ablegen. „Papier ist geduldig“, sagte der römische Schriftsteller und Politiker Cicero (106 – 43 v. Chr.). Und er meinte, dass man gerne alles aufschreiben könne. Aber ob das Aufgeschriebene stimme, das wisse man nicht.

Wir haben uns aufgemacht, Geschichte und Bedeutung von Papier im Schussental zu ergründen und für jetzt und die Nachwelt aufzuschreiben.

Die Papiermacherei in Oberschwaben blickt auf eine lange Tradition zurück. Zahlreiche Flüsse und Bäche boten ideale Bedingungen für die Ansiedlung von Papiermühlen, die das reichlich ins Schussental hinabströmende Wasser nutzten, um die Rohstoffe für die Papierherstellung zu verarbeiten. Die ersten Papiermühlen auf deutschem Boden entstanden in Nürnberg und Ravensburg. Die erste bei uns nahm 1392, spätestens Anfang 1393 ihren Betrieb auf und bald gab es in Ravensburg sechs Papiermühlen auf dem Gebiet zwischen dem Obertor und dem Knollengraben. Und wer Lust hat auf die Geschichte der Mühlen und zahlreiche Anekdoten, ist bei Walter Heiss richtig.

Unterwegs auf dem Ravensburger Papiermühlenweg

Heiss ist ein umtriebiger Mensch: Seit 1972 mischt er leidenschaftlich bei der „Schwarze Veri Zunft“ mit. Und seit gut sieben Jahren führt der Papiermachermeister zwei Mal im Jahr, im Mai und September, sowie auf Anfrage über den Ravensburger Papiermühlenweg – im Lumpensammlerkostüm. Die dazugehörige Papierwerkstatt im Humpishaus können Interessierte jeden ersten Samstag im Monat besuchen.

Heute wird Papier aus Holz gemacht. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aber wurde es aus Lumpen, also Textilabfällen, hergestellt. So entstand ein neuer Beruf: der Lumpensammler. Er oder sie zog durch die Gegend und fragte nach alten Kleidern, Stofffetzen, Windeln und Stoffresten, die dann zu einer Papiermühle gebracht wurden. Jede*r Lumpensammler*in durfte nur in einem fest abgesteckten Gebiet sammeln, das einer Mühle zugeordnet war. Diese bezahlte nach Gewicht und Qualität. „Die Lumpensammler hatten ein kurzes Leben“, weiß Heiss, denn sie holten die Lumpen auch aus den Misthäufen, schüttelten die Maden raus, atmeten Schadstoffe ein und erwischten reichlich Krankheitserreger. Klingt wenig verlockend, aber konnte ein Weg zu schnellem Geld sein. Um kriminelle Machenschaften wie Lumpenschmuggel zu unterbinden, legten die hiesigen Papiermacher im 18. Jahrhundert den Lumpenkauf in einer Ordnung fest: „Die Lumpenordnung der Papiermeister“ – festgehalten auf Papier und heute im Stadtarchiv ordnungsgemäß abgelegt.

Um aus den Lumpen Papier zu gewinnen, musste der Papiermacher das Material in einzelne Fasern zerlegen. Dafür riss er sie in kleine Fetzen und ließ die Lumpen anschließend auf einem großen Haufen faulen. Durch den Fäulnisprozess wurden die Lumpen mürbe und konnten zerfasert werden. „Und das hat ganz schön gestunken“, sagt Heiss. Anschließend ging’s ans Stampfen. In der Papiermühle trieb ein Wasserrad ein Stampfwerk an, das die Textilreste unter beständigen Schlägen in ihre Bestandteile auflöste. Dabei heraus kamen feinste Fasern, die dann zu Bogen geschöpft, gepresst und auf den hohen Bühnen zum Trocknen aufgehängt wurden. Anschließend konnten sie beschriftet oder bedruckt werden. Rund 3000 bis 3500 Blatt Papier erzeugte eine Papiermühle pro Tag. In dieser Hochzeit der Papierproduktion war Ravensburg der größte Papierlieferant nördlich der Alpen.

Wenn Walter Heiss das Lumpensammlerkostüm anzieht, dann steckt dahinter ein Teil der spannenden Geschichte der Papierherstellung in Ravensburg. Und davon erzählt er bei einer seiner Führungen gerne. © Stefan Blank

Rasender Aufstieg und Zunahme der Bedeutung

Papier spielte eine zentrale Rolle in der Industrialisierung, und der Buchdruck trug ab Mitte des 15. Jahrhunderts maßgeblich zur Verbreitung von Wissen, der Beschleunigung von Kommunikation und zur Entwicklung von Bildung bei. Papier war ein entscheidender Faktor für den Fortschritt in der Verwaltung und im Handel.

Ab 1799, mit der Einführung der mechanischen Papiermaschine, wurde Papier in riesigen Mengen und zu niedrigeren Kosten produziert. Gleichzeitig verloren die Ravensburger Papiermühlen an Bedeutung: 1876 schloss die Papiermühle „Der Untere Hammer“ als letzte der Stadt. Andere wollten in großem Stil an der Papierproduktion verdienen: „Am 30. Oktober 1871 gründeten die Herren Zuppinger und Schmidutz mit dem Ravensburger Kaufmann Franz A. Mehr und Johannes Naef Schäppi aus der Schweiz eine Aktiengesellschaft – das war die Geburtsstunde der Baienfurter Papierfabrik“, so steht es im „Baienfurter Buch“.

Papierproduktion im großen Stil: die Papierfabrik Baienfurt

Die Herren dachten von Anfang an groß, kauften im Gründungsjahr die erste Papiermaschine und ließen einen 5,7 Kilometer langen Kanal bauen, um die Wasserkraft der Wolf-egger Ach bestmöglich zu nutzen. Energie musste her. In den folgenden Jahrzehnten spielte die Papierfabrik Baienfurt eine gewaltige Rolle in der Industriegeschichte des Schussentals. Die Verantwortlichen holten gelernte Papiermacher aus Böhmen und Italiener als Holzschäler, Kanalbauer oder Helfer. Zusätzliche Wohngebiete mussten erschlossen werden. 1930 stellte das Werk mit 430 Mitarbeiter*innen 12.000 Tonnen Karton her und 13.000 Tonnen Zellstoff. 1970 arbeiteten hier 884 Personen. 1990 übernahm die Stora-Gruppe und 1998 produzierte die Papierfabrik nach der Fusion von Stora und Enso 170.000 Tonnen Karton – ein Rekord.

Mehr Wärme, mehr Gas, mehr Energie

Ein Rekord mit Folgen. Denn „der Anschluss der Papierfabrik an das Gasnetz der Stadtwerke Weingarten und später an das Hochdrucknetz der Gasversorgung Oberschwaben bedeutete auch für die Gemeinde Baienfurt eine frühzeitige Erschließung der Wohngebiete mit dem Energieträger Gas“, so das Baienfurter Buch. Gas musste her zur Wärmeerzeugung, die wiederum zur Trocknung von gestrichenem Glanzkarton eingesetzt werden sollte. Hier kamen die Stadtwerke Weingarten und damit die Gasversorgung Oberschwaben ins Boot. Denn jetzt ging es darum, die Papierfabrik an das Weingartener Gasnetz anzuschließen.

„Der Energiebedarf der Papierfabrik Baienfurt war so groß, dass wir eine weitere Leitung bauen mussten, diesmal aus Niederbiegen.“

Jochen König
Ehemaliger Werkleiter der Stadtwerke Weingarten

Was nicht nur logistisch eine enorme Herausforderung war, wie Jochen König erzählt. Er war ab 1976 Werksleiter der Stadtwerke Weingarten und erinnert sich mit seinen heute 84 Jahren noch gut. „Ein Gebiet einer anderen Gemeinde zu erschließen, die richtige Trassenführung zu finden und dann eine Leitung zu legen, das war Neuland für uns.“ Doch das Gesellenstück gelang und wurde später getoppt durch ein Meisterstück: „Denn bald kam die Papierfabrik nochmal auf uns zu. Sie hatten jetzt ein neues Kraftwerk in Form einer Turbine. Und diese musste mit noch mehr Erdgas versorgt werden. Der Bedarf war so groß, dass wir eine weitere Leitung bauen mussten.“ Diese kam jetzt aus Niederbiegen. Denn hier lag eine Hochdruckleitung der Gasversorgung Oberschwaben. Ein Anschluss mittels einer Mitteldruckleitung wurde gelegt und Baindt gleich mitversorgt.

Und dann ging es zu Ende mit der Papierfabrik Baienfurt. Renditeziele konnten nicht mehr erfüllt werden und „so kam es zum härtesten Schicksalsschlag für die Gemeinde Baienfurt am 11. Dezember 2008, der Einstellung der Kartonproduktion und der Schließung des Werks“, wie das Baienfurter Buch berichtet. Damit endete die Geschichte der industriellen Papier- und Kartonproduktion im Schussental. Was bleibt? „Die Leitungen nach Niederbiegen sind alle noch da“, sagt König, „die können als Puffer für die Gasversorgung genutzt werden.“

Wird Papier handwerklich bearbeitet und veredelt, dann sieht es nicht nur gut aus, sondern fühlt sich einfach gut an. © Don Ailinger

Papier als haptisches Erlebnis

Heute gibt es hier keine Papierfabriken mehr, aber eine überschaubare Zahl an Druckereien. Dazu gehört die Druckerei Müller aus Langenargen. Sie wurde 1978 gegründet und ist hauptsächlich für die regionale Industrie tätig. Seit 2018 führen Marius und Pius Müller das Haus und liefern Full Service, wie Druck, Einlagerung, Versand und Veredelung. Was wird im Zeitalter der Digitalisierung überhaupt noch gedruckt? Deutlich weniger als früher. Weniger Geschäftsausstattungen und Betriebsanleitungen. „Es gibt eine Konzentration auf Imageproduktion, auf Veredelung, besondere Heftungen“, so Marius Müller, „wir konzen-trieren uns auf Dinge, die handwerkliches Geschick und produktionstechnisches Know-how benötigen.“

„Wir konzentrieren uns auf Dinge, die handwerkliches Geschick und produktionstechnisches Know-how benötigen.“

Marius Müller
Geschäftsführer Druckhaus Müller

Hat denn Papier überhaupt noch Zukunft? „In meinen Augen geht es um das haptische Erlebnis. Man blättert, es ist langlebig, man holt’s raus, legt’s zurück. Aber natürlich wird es entscheidend sein, wie die nächste Generation Papier annimmt.“ Die nächste Generation? Da kennt sich Dr. Martin Binder aus. Er ist Professor für Technikdidaktik an der PH Weingarten.

Am besten liest sich’s auf Papier

Gutes Lernen ist eine Frage des konzentrierten Dranbleibens an einer Sache. Digitale Medien bieten hier Abwechslung, aber am besten liest sich’s auf Papier.“ In seinen Forschungen und Überlegungen hat er sich viel mit abstrakten Medien wie der geschriebenen Sprache auseinandergesetzt und wie sie von Materialität abhängen. „Oder wie hätte die Menschheit sonst bis zur Erfindung des Papiers so viel gelernt, dass sie Papier erfinden konnte?“ Für ihn sind sogenannte „Realmedien“ für das Lernen von größter Bedeutung. Also nicht Papier oder Tablet, sondern „die reale Hauskatze, das reale Fahrrad, das reale Schussental“. Die Kombination sei das Entscheidende: „Lernen mit und an der Realität und Lernen mit und an Bildern und Lernen mit Sprache – sowohl gesprochen als auch geschrieben.“ Mit geschriebener Sprache könnten flüchtige Gedanken festgehalten werden und sie mache Gedanken konservierbar und wieder abrufbar.

Martin Binder von der PH Weingarten umgibt sich gerne mit Büchern, denn mit und in ihnen werden Gedanken für die Nachwelt gesichert.
© Don Ailinger

„Das sind aber eher instrumentelle Funktionen von Papier. Anders sieht es aus, wenn man statt Lernen auf Bildung achtet: Bildung wird meines Erachtens gut als ‚Haltung von Menschen der Welt gegenüber‘ beschrieben. Und gerade in Zeiten digitaler Medien macht es einen Unterschied, ob man weiß, welche kulturellen Leistungen in einem einfachen DIN-A4-Blatt stecken.“ Und die können gewaltig sein: „Das Aufschreiben hat eine enorme kulturgeschichtliche Bedeutung. Denn es ging uns Menschen immer darum, etwas weiterzugeben, ohne es auswendig gelernt zu haben. Die Menschen schrieben quasi ihr Buch des Lebens“. Ist es erstmal aufgeschrieben, kann dieses Wissen haptisch weitergegeben werden.

Sein Fazit: „Das Beharren am Papier ist ein Stück weit eine Form von Kultur, die wir nicht einfach aufgeben und vergessen können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Papier irgendwann nur noch im Museum sehen.“ Zum Glück gibt es noch Orte, in denen Bücher in Regalen stehen und nicht im Altpapier landen. Dazu gehört das Büchertauschregal im Hauptgebäude der TWS, das allen Mitarbeitenden zur Verfügung steht.

„Ich kann mir nicht vorstellen,
dass wir Papier irgendwann nur noch im Museum sehen.“

Dr. Martin Binder
Professor für Technikdidaktik an der PH Weingarten

Die TWS selbst ist in einigen Bereichen papierlos unterwegs, beispielsweise bei den sogenannten „Klickstrecken“ beim Netz-Hausanschluss. Hier werden die Listen online und am Bildschirm ausgefüllt. „Zur Umsetzung der Energiewende haben wir unsere aktuellen Prozesse wie beim Hausanschluss auf ein neues, digitales Niveau gehoben. Mit Klickstrecken zur Datenabfrage und automatisierten E-Mails können wir nun die Qualität von Anträgen direkt beeinflussen und sparen Papier“, erklärt Annika Ebser, Nachhaltigkeitsmanagerin bei der TWS.

Was aber nicht heißt, dass es bei der TWS kein Papier mehr gibt. Vielmehr wird es in der Kundeninformation eingesetzt, als Flyer in den Kundencentern und als Broschüren. Und eben in dem TWS-internen Büchertauschregal. Im Sommer 2024 wurde es eingeweiht mit den ersten, von TWS-lern gespendeten Büchern. Diese sortierten dann Caroline Langhammer, Monika Sailer und Jaqueline Masjukov ein. Heute stehen hier Kinder- und Fachbücher neben Stig Larsson und Hera Lind. „Und am Regal können Kolleg*innen zusammenkommen und miteinander reden,“ erklärt Sailer. 

Jaqueline Masjukov und Monika Sailer (v. l.) sind Teil des Teams, das sich das TWS-interne Büchertauschregal ausgedacht und ins Leben gerufen hat. Sie freuen sich über jedes gespendete Buch, das sie ins Regal einräumen können. © Don Ailinger

Kollegin Langhammer hat reichlich Erfahrungen damit, ehrenamtlich Literatur unter die Menschen zu bringen: Sie liest regelmäßig in der Bücherei Mochenwangen vor und will Kinder und Jugendliche und damit die nächste Generation an das Buch und an das Papier heranführen.

Und das ist sicher eine sehr gute Idee. Denn eine Welt ohne Papier und Bücher wäre wohl eine traurige, fantasielose Angelegenheit. Oder, wie Jorge Luis Borges (1899–1986), argentinischer Schriftsteller und Bibliothekar, sagte: „Ich kann nicht schlafen, wenn ich nicht von Büchern umgeben bin.“

Verwendete Literatur: Gemeinde Baienfurt: „Das Baienfurter Buch“,
Biberacher Verlagsdruckerei GmbH & Co. KG, 2015

making of „mein Schussental“ –  Von Lumpensammlern und Klickstrecken © Don Ailinger

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